Berlinale: Ein Festival in der ganzen Stadt

»Sur l'Adamant« (2022). © TS Production / Longride

Man hätte der ersten »normalen« Berlinale seit der Corona-Pandemie ein besseres Umfeld gewünscht. 2021 mussten die Verantwortlichen die Filmfestspiele ins Internet verlegen, im vergangenen Jahr gab es nur eine verkürzte Berlinale unter hohen Sicherheitsvorkehrungen. Und in diesem Jahr: Baustellen und Kinomangel. Der Friedrichstadt-Palast etwa mit seinen fast 1.900 Plätzen musste ausgerechnet während der Berlinale-Tage seine Lüftung erneuern. So war das Festival gezwungen, sich noch mehr über die ganze Stadt auszuweiten. Und der Potsdamer Platz, ohnehin Inbegriff moderner städtebaulicher Trostlosigkeit, war nicht mehr das Herz des Festivals.

Nun, die Stadt Berlin scheint ihre Berlinale nicht sonderlich ins Herz geschlossen zu haben. Aber die Berlinerinnen und Berliner lieben ihre Berlinale: mit 270.000 Besuchern zur Wochenmitte war das Vorpandemie-Niveau wieder erreicht. Am Wettbewerb des Jahrgangs 2023 ist schon vorab viel herumgekrittelt worden, nicht zu Unrecht. Dass ihm etwa die großen Namen fehlen – womit nicht nur US-amerikanische gemeint waren.

Auf den ersten Blick sahen die 19 Filme des Wettbewerbs des Jahres 2023 erstaunlich vielfältig aus, ein Dokumentarfilm und zwei Animationsfilme waren dabei, und im heimischen Aufgebot von insgesamt fünf Filmen präsentierte sich mit Christoph Hochäuslers »Bis ans Ende der Nacht« ein düsterer, abgedrehter Polizeithriller voller Wendungen und Täuschungen. Und es gab auch zwei Komödien, ein Genre, das sonst nicht so recht in das Kunstfilm-Verständnis des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian zu passen scheint. Zum einen »Blackberry« des Kanadiers Matt Johnson, der von den Nerds erzählte, die das erste Smartphone der Welt bauten. Die zweite Komödie stammte von einem Regisseur, von dem man eine solche Leichtigkeit nicht erwartet hätte: Christian Petzold lässt in seinem »Roter Himmel« einen misanthropen und egozentrischen Schriftsteller (großartig: Thomas Schubert!) vor allem an sich selbst scheitern, während im Wald an der Ostsee die Brände lodern.

Petzold hätte man auch den Goldenen Bären gewünscht, immerhin hat er den Silbernen Bären Großer Preis der Jury gewonnen. Den Goldenen Bären vergab die Jury unter ihrer Präsidentin Kirsten Stewart an den Dokumentarfilm »Sur L'Adamant« des französischen Regisseurs Nicolas Philibert. Überraschend, aber auch eine durchaus vertretbare Entscheidung. Zuletzt hatte 2016 mit dem Flüchtlingsfilm »Seefeuer« von Gianfranco Rosi eine Dokumentation das Bären-Rennen gemacht. Das Adamant ist eine Tagesklinik für Menschen mit psychischen Problemen, ein ehemaliges Frachtschiff, das auf der Seine mitten in Paris angedockt ist. Philibert hat im Sommer und Herbst 2021 das Boot besucht und die Therapeuten und Patienten porträtiert, ihre Rituale und Sitzungen beobachtet. Wie in allen seinen Filmen tritt Philibert vorurteilsfrei an die Menschen auf dem Schiff heran – gerade zu Beginn des Films ist es schwierig zu sagen, wer zu welcher Gruppe gehört.

Ein großes Thema war in diesem Jahr sicher die Familie. Man könnte Emily Atefs »Irgendwann werden wir uns alles erzählen« dazurechnen (auch wenn er von sexueller Obsession handelt), »Tótem« von der Spanierin Lila Avilés, der die durchaus turbulenten Vorbereitungen für ein Geburtstagsfest erzählt, oder »20.000 especias des abejas«, dem Debüt der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solagren, in dem ein Junge nach seiner geschlechtlichen Identität sucht, wie im deutschen »Oskars Kleid«, nur vielschichtiger. Die achtjährige Sofia Otero wurde dafür für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet (Thea Ehre aus »Bis ans Ende der Nacht« für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle). Auch Philippe Garrels »Le grand chariot« über eine Marionettenspieler-Familie gehört zu diesem Themenkomplex. Dass der Altmeister für seinen fahrig inszenierten Film aber den Silbernen Bären für die beste Regie gewann, irritierte dann doch.

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