Gewalt und Leidenschaft

Wettbewerb: »Don't Worry, He Won't Get Far on Foot«, »Utøya 22. Juli« und »In Zeiten des Teufels«
»Don't worry, weglaufen geht nicht« (2018). © Amazon Studios

»Don't Worry, He Won't Get Far on Foot«, zu Fuß kommt der nicht weit: Nennt man so einen Film über einen Menschen, der gelähmt im Rollstuhl sitzt? Man kann das machen. Schließlich stammt der Witz vom Helden selbst: Gus Van Sant porträtiert in seinem Wettbewerbsbeitrag den 2010 gestorbenen amerikanischen Cartoonisten John Callahan, einen Pionier des »politisch unkorrekten« Humors. Ein Leben wie das von John kann man vielleicht auch nur mit einem Sinn fürs Groteske meistern: als Baby von der Mutter verlassen, im Teen-Alter schon Alkoholiker. Und dann der Autounfall, der ihn zum Krüppel macht, bei einer Sauftour. Der reale John war damals 21; gespielt wird er von dem 43-jährigen Joaquin Phoenix mit bärenverdächtiger Verve.

Van Sant, zuletzt mit »Promised Land« auf der Berlinale, erzählt Johns Geschichte als die einer Heilung. Aber nicht klassisch amerikanisch, nicht heroisch. Es ist der Geist der antiautoritären 70er, der Gegenkultur, der John hilft. Da ist die Freundin (Rooney Mara), die kein Problem damit hat, sich in die »abweichende« Funktionalität seines neuen Körpers – Erektionsprobleme – einzuarbeiten. Vor allem aber ist da die von dem schwulen Edelhippie Donnie (Jonah Hill) mit einer Mischung aus Spiritualität und Pragmatismus betreute Therapiegruppe, in der sich Exzentriker wie Beth Ditto und Udo Kier versammeln. Irgendwann beginnt John zu zeichnen, in einem unbeholfenen Strich, der zum Markenzeichen wird. Die Inszenierung unterstützt das Chaotische dieser Biographie durch einen sprunghaften Wechsel der Zeitebenen und eine dynamische Kamera: Der Film ist eine Amazon-Produktion, funktioniert aber auch im Kino.

Und er ließ das Publikum aufatmen nach einer »Serie der Gewalt« mit sehr bitteren Arbeiten. Erik Poppes »Utøya 22. Juli« stellt den Anschlag auf ein norwegisches Sommercamp, bei dem 69 Jugendliche von dem Rechtsextremisten Anders Breivik erschossen wurden, aus der Perspektive der Opfer nach: In Echtzeit, 72 Minuten lang, ohne Schnitt, folgt die Kamera einem Mädchen (Andrea Berntzen), das sich verzweifelt in Sicherheit zu bringen sucht. Das Szenario entstand auf der Basis von Zeugenaussagen, die Absicht der Filmemacher war, das Trauma, unter dem Norwegen immer noch leidet, zu bearbeiten. Der Effekt ist aber problematisch: »Utøya« zielt auf den Affekt, auf Immersion.

Hochgradig stilisiert dagegen der vier Stunden lange Film von Lav Diaz – vor zwei Jahren mit einem Achtstünder im Wettbewerb – über eine traumatische Periode der philippinischen Geschichte: die späten 70er, als sich das Marcos-Regime gefestigt hatte. »In Zeiten des Teufels« erzählt ebenfalls von Opfern: politisch Missliebigen verschiedener Couleur, deren Wege sich in der letzten Stunde in einem von der Miliz beherrschten Dschungeldorf katastrophisch verschlingen. Der gesungene, repetitive Dialog und das theaterhafte Arrangement der Figuren geben dem Film den Charakter einer Klage, einer Meditation: Hier ist Zeit, über das Gesehene nachzudenken.

Am Mittwoch dann das: ein Handyfilm im Berlinale-Wettbewerb. Wenn auch außer Konkurrenz. Steven Soderbergh stellte mit »Unsane – Ausgeliefert« einen Thriller vor, der wohl der offensichtlichste Festivalbeitrag zum Thema #MeToo ist. Sawyer (Claire Foy), jung, attraktiv, taff, musste ihr Leben umkrempeln, weil sie von einem Verrückten verfolgt wurde. Sie ist umgezogen, aber sie wird die Angst nicht los und sucht Hilfe – eine Gesprächstherapie. Das Dokument, das sie in der Klinik unterschreibt, ist allerdings eine Selbsteinweisung – Sawyer wird zwangsbehandelt. »Du hast eine Krankenversicherung, die haben Betten,« sagt ein Mitinsasse. Und dann taucht der Stalker wieder auf. Das ist der Stoff eines dreckigen kleinen B-Films. Aber gelegentlich findet Soderberghs aufgerüstete Handykamera – mit dem Standard-iPhone dürfte das nicht gehen – Bilder von disproportionalen Räumen voller klumpiger Schatten, die von fundamentaler Bedrängnis sprechen. Sie werde sich nie wieder sicher fühlen, gibt Matt Damon in einem komischen Kurzauftritt als Detektiv der Heldin zu verstehen. Sie möchte ihren Facebook-Account löschen. Und: »Das Handy ist Ihr Feind.«

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