Explodierendes Weiß

Warum soll im Kino der Blick eigentlich nur in eine Richtung gehen? Für den japanischen Regisseur Kiju Yoshida ist das keine ausgemachte Sache. Von seinen eigenen Filmen erwartet er, dass sie zurück aufs Publikum blicken. Anfangs konnte ich mir nicht recht vorstellen, wie das gelingen sollte.

Wie dreht man solche Filme? Und was läge in ihrem Blick, eine Frage, eine Herausforderung oder Erschütterung? Seine ersten Filme aus den frühen 1960ern gaben noch keine endgültige Antwort darauf. Er verstand sich bereits auf die Umkehrung: der Perspektiven, der Konventionen, der Erwartungen. Diese konnte er selbst auch schon als Zuschauer vornehmen, wie ich einer schönen Stelle in seinem Buch über Yasujiro Ozu entnahm. Da schreibt er, das alte Ehepaar, das in »Reise nach Tokio« seine Kinder besucht, betrachte nicht die Stadt, sondern die Stadt betrachte sie. Sagen wir es einmal so: Diesem Filmemacher kommt man nicht ohne philosophische Neugierde näher. Keine Sorge, allzu viel Überbau braucht es dafür nicht, wohl aber Schaulust.

Die Viennale und das Österreichische Filmmuseum (www.filmmuseum.at) widmen ihm heuer eine Retrospektive, die noch bis zum 23. November läuft. Sie ist ein begrüßenswertes, überfälliges Unterfangen, denn es gilt, einen großen Unbekannten des Kinos zu entdecken. In der Folge kann ich übrigens nicht mit deutschsprachigen Titeln seiner Filme aufwarten, denn sie kamen hier zu Lande nie heraus. Das ist womöglich jener typischen Verdrängungslogik geschuldet, die sich aus einer filmischen Bewegung nur eine heroische Figur heraussucht und fortan keine andere gelten lässt. Im Falle der japanischen Neuen Welle, die Anfang der 60er Jahre anbrandete, war neben Nagisa Oshima offenbar kein Platz mehr in den Köpfen. Gut, vielleicht noch ein Spalt für Masahiro Shinoda. Aber im Falle Yoshidas fanden sich in damals in der hiesigen Filmkritik offenbar keine geeigneten Pilotfische.

Wie zahlreiche meiner cinéphilen Leidenschaften begann auch die für den japanischen Bilderstürmer in Paris. Das war vor gut 15 Jahren. In einem Kino im Quartier Latin liefen seine ersten Filme »Rokudenashi« (Good for Nothing) und »Chi wa kawaiteru« (Blood is dry), die mir als eigensinnige Genrearbeiten gefielen, weil sie ein Zeitklima der Orientierungslosigkeit einfingen. Bei »Akitsu Onsen« (Akitsu Springs) erlebte ich einen echten coup de foudre: Liebe auf den dritten Blick. Es ist ein für ihn ungewöhnlich klassisches Melodram über einen an Tuberkulose erkrankten Kriegsheimkehrer, dessen Lebenswille durch die Liebe einer jungen Frau wieder geweckt wird. In den nächsten anderthalb Jahrzehnten begegnen sie sich in dem titelstiftenden Heilbad sporadisch wieder, was letztlich nur eine Folge von Abschieden ist. Yoshidas erster Film in Farbe (und für lange Zeit der einzige, während er in Cinemascope ständig drehte) entfaltet ein Panorama der Nachkriegszeit und ist gewissermaßen ein Vorläufer der Hollywoodkomödie »Nächstes Jahr, selbe Zeit«, aber ohne das Versprechen auf Glück. Als Yoshidas Hauptwerk wird allenthalben der episch magistrale »Eros & Massacre« angesehen, aber mein Lieblingsfilm bleibt »Akitsu Onsen«. Ich glaube nicht, dass das ein Missverständnis ist, er erwidert meinen Blick einfach immer noch auf einzigartig tiefschürfende Weise. 

Etwa zur selben Zeit zeigte das Centre Pompidou eine große Retrospektive seines Werks, die den Titel »Le Gout de la beauté« (Der Geschmack der Schönheit) trug. Der Titel schien auf Anhieb gar nicht zur pessimistischen Weltsicht des Regisseurs zu passen. Yoshida stellte einige der Filme selbst vor, gemeinsam mit seiner Hauptdarstellerin und Ehefrau Mariko Okada. Ein Freund berichtete mir von den eindrucksvollen Auftritten des Paares. Er hatte wohl vor allem Augen für sie, denn er schwärmte, dass die Schauspielerin sich in den vier Jahrzehnten, die seit ihren gemeinsamen Anfängen (bei »Akitsu Onsen«, der bereits ihr 100, Film war!) vergangen waren, überhaupt nicht verändert hatte. Ich verpasste die Reihe, weil ich schon auf der Heimreise war, auf der ich mich mit der Lektüre seines Ozu-Essays tröstete, den Bertrand Tavernier und das Institut Lumière in ihrer Buchreihe bei Actes Sud herausbrachten. Darin zeigt er sich als wachsamer Bewunderer des Meisters, den er bei dem Studio Shochiku auch persönlich kennen gelernt hatte. Sein Mentor war er nicht, aber Yoshida nahm ihn beim Wort - selbst wenn diese von zu viel Sake benebelt waren, entdeckte er noch Weisheit darin. Bemerkenswert fand ich, dass der vermeintliche Kinorebell Yoshida den Älteren nicht als Repräsentanten eines Kinos betrachtete, mit dem er brechen musste oder das es zu überwinden galt. Er studierte dessen Werk vielmehr akribisch und entdeckte, dass in Ozus Filmen die Dinge uns betrachten.

Später holte ich Yoshidas weitere Filme auf DVD nach. Bei Carlotta waren sie mit Einführungen des Regisseurs und manchmal auch seiner Frau erschienen. Mein Freund hatte Recht, mit der Zeit war sie nur ein wenig feingliedriger geworden. Aber nicht nur ihretwegen erschloss sich mir nun der Titel, den das Centre Pompidou gewählt hatte. Sein Kino ist von einer plastischen Anmut, die kompliziert ist und in der Filmgeschichte ihresgleichen sucht. In ihm wirkt ein gleichsam nüchterner Zauber. Seine Bilder sind rigide komponiert, Kabinettstücke des negative space. Der filmische Raum besitzt bald nicht mehr die geringste Selbstverständlichkeit bei ihm. Zusehends gewinnt die Architektur die Oberhand gegenüber den Figuren. Das ist schon kühn genug, aber faszinierender ist noch, wie er das Weiß einsetzt. Es ist gleißend, legt sich wie ein Filter über die Szenerien und verleiht ihnen eine eigene, befremdliche Wirklichkeit. Mitunter scheint es zu explodieren. Ich vermute, das japanische Kino brauchte lange, um sich von dem Wagemut dieses noblen Stilisten zu erholen. Der Aufruhr seiner Filme ist freilich nicht nur ästhetisch. Zusammen mit Mariko Okida entwirft er wehmütige, verstörende Frauenporträts, die sich summieren zu einer bitteren Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Reihe des Filmmuseums heißt "Eros, Anarchie, Anti-Cinema". Ich hadere nur mit dem letzten Begriff. Yoshida macht kein Anti-, sondern entschiedenes Kino: Sinnlichkeit ist Sinnlichkeit, selbst wenn die Welt filmisch aus den Angeln gehoben wird. Der einleitende Essay von Haden Guest sowie die einzelnen Filmtexte im Programmheft (unter anderem von dem Japan-Kenner Roland Domenig) sind ungemein erhellend. Sie finden Sie auf der Website des Filmmuseums. Inzwischen ist Yoshidas Werk auch in englischsprachigen DVD-Boxen und auf Blu-ray erhältlich. Für das japanische Fernsehen hat er eine 95teilige Reihe über Maler gedreht, die unter dem Titel »Beauté de la beauté« in Frankreich auf DVD erschien. Von seinem Ozu-Essay liegt mittlerweile auch eine englische Übersetzung vor. Das gilt leider noch nicht für das schillernde Buch, das er über sein fünfjähriges Exil in Mexiko schrieb. Capricci hat es jedoch in einer französischen Fassung aufgelegt. Ich fürchte, die Schaulust ist hier zu Lande nach wie vor auf den Import angewiesen.

 

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