Bewegungsfreiheit

Apichatpong Weerasethakul

An öffentlich geführten Tagebüchern herrscht derzeit kein Mangel. Jeder hat etwas zu berichten aus der Ereignislosigkeit seines eingehegten Daseins. Es wäre nicht zu ertragen, wenn sich diese existenzielle Parenthese nicht mit Bedeutung aufladen ließe. Die Kränkung des Leidensstolzes säße zu tief.

Während auch hochmögende Literaten an der Verzichtbarkeit dieser Aufgabe scheitern, erreichen uns aus der Filmwelt Botschaften, die man nicht missen möchte. Apitchatpong Weerasethakul beispielsweise versenkt sich in die Betrachtung eines Pflaumenbaums vor seinem Haus. Der Regisseur von »Tropical Melody« schenkte ihm (er gehört zur Sorte »Marian«) bislang wenig Beachtung, da er meist abwesend war, bei Dreharbeiten oder auf Reisen. Nun aber ist der Thailänder in seinen Bann geraten; nicht nur wegen dessen orangener Farbenpracht und der köstlichen Früchte, die er ihm täglich spendet. Sein unaufhörliches Sprossen sendet ihm auch eine melancholische Nachricht von Sterben und Werden. Der Baum ist wirklich sehr hoch.

Nach elf Tagen Hausquarantäne hat Pedro Almodóvar seinen inneren Widerstand überwunden, ein Corona-Diarium zu schreiben. Die erste Folge erschien bereits im März in der Zeitung »El Diario« und liegt nun in einer englischen Übersetzung vor. Einige der Räume, durch die er nun tigert, kennen wir aus »Leid und Herrlichkeit«. Aus dem Fernsehen erfährt er, dass Lucia Bosè gestorben ist, deren Sohn Miguel eine Hauptrolle in »High Heels« spielt. Schön, in welche Worte Almodóvar seine Bewunderung für die Schauspielerin kleidet, die für ihn – neben Lauren Bacall, Pina Bausch und anderen – zu einem Inbegriff der modernen Frau wurde. Eine große Überraschung ist das Auftauchen Sean Connerys in seinen Notizen, der sich als intimer Kenner von Alodóvars Filmen entpuppt. Verblüffend ist auch die herausragende Rolle, die »Goldfinger« im Programm seines Heimkinos spielt. Er genießt, nach einem Nachmittag mit Melvilles »Der Chef«, am Abend das dritte Bond-Abenteuer als erhabenen Eskapismus.

So sehr verblüffen muss das andererseits nicht. Die alten Bond-Filme werden zur Zeit vielerorts als Gegenmittel zu Langeweile und Trostlosigkeit empfohlen. In den Sendern der RTL-Gruppe laufen sie gerade rauf und runter. Als Hommage an Honor Blackman sah ich mir vor zwei Tagen, nachdem morgens die Nachricht von ihrem Tod gemeldet worden war, noch einmal ihren wunderbaren Auftritt als Pussy Galore an. Vor viereinhalb Jahren habe ich an dieser Stelle zu ihrem 90. Geburtstag gratuliert, Hanns-Georg Rodeks »What's in a name?«-Nachruf ist sehr schön. Die Kulturredaktion von »Le Figaro« geht in ihren VoD-Empfehlungen gerade den Bond-Kanon durch. (Bisher legt sie den Lesern nur zwei andere Filme ans Herz, »Der Mann von Rio« und »Verliebt in scharfe Kurven«, deren momentane Attraktivität wohl auch in der atemlosen Bewegungsfreiheit ihrer Geschichten liegt.) Ich vermute, Siegfried Tesches neues Buch über Bonds »Motorlegenden« verkauft sich sehr gut. Bestimmt ist es nicht nur die topographische Freizügigkeit, welche die alten Bond-Filme gerade so reizvoll erscheinen lässt. Ich glaube, das hat auch mit der Nostalgie nach einer Epoche zu tun, in der es noch berechenbarere Weltmächte als das Virus gab.

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