Riesenschultern

Guillermo del Toro am Set von »Crimson Peak« (2015). © Universal Pictures

Momentan läuft es rund für Guillermo del Toro. In Venedig hat »The Shape of Water« den Goldenen Löwen gewonnen, mit 13 Nominierungen hat er glänzende Aussichten, am nächsten Sonntag viele Oscars zu gewinnen – und schlägt sich an den Kinokassen beachtlich. Mit ihm hat der Mexikaner eine Trilogie magistral abgeschlossen, deren erste Teile »El espinazo del diablo« (The Devil's Backbone) und »Pans Labyrinth« bisher meine Favoriten in seinem Werk waren. Trotzdem mache ich mir gerade ein bisschen Sorgen um ihn.

Seit einigen Wochen verfolge ich die Plagiatsvorwürfe, die ihn erhoben werden, mit großem Unbehagen. Im Januar meldeten sich die Erben des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Dramatikers Paul Zindel zu Wort, die deutliche (aber nicht unbedingt eindeutige) Parallelen zwischen »The Shape of Water« und Zindels Drama »Let me hear you whisper« aufzeigten. In geringerem Maße scheint dies auch für den Kurzfilm »The Space between us« von einigen niederländischen Filmstudenten zu gelten, der allerdings erst 2015 zu sehen war, als das Drehbuch für del Toros Film weitgehend fertig war. Und Jean-Pierre Jeunet ärgert sich, weil die kleine Tanzeinlage von Sally Hawkins und Richard Jenkins seiner Meinung nach bei »Delicatessen« abgekupfert ist.

Die Anschuldigungen der Zindel-Erben wiegen schwer. Die von ihnen ausgemachten Ähnlichkeiten sind frappierend und reichen bis ins Detail, wie ich einem Artikel im »Guardian« entnehme. Die Produktionsfirma Fox Searchlight bestreitet vehement, dass hier ein Plagiat vorliegt. Auch ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass der Regisseur und seine Co-Autorin Vanessa Taylor das in ziemliche Vergessenheit geratene Stück kennen. del Toro tummelt sich in anderen Welten. In einer der 13 Kategorien, in denen der Film nominiert ist, könnte der Vorwurf ihm beträchtlich schaden, dem Preis für das beste Originaldrehbuch. Regisseur und Produktionsfirma sprechen von einer durchschaubaren Kampagne. Just zu dem Zeitpunkt, als die Academy-Mitglieder ihre Wahlzettel ausfüllen, hat Zindels Sohn eine Klage eingereicht, die 70 strittige Stellen namhaft macht.

Das sind zu viele, um sie leicht von der Hand zu weisen. Hinzu kommt, dass der Romancier Daniel Kraus, der als Miturheber der Idee und Co-Produzent figuriert, ein erklärter Bewunderer Zindels ist. Es ist nicht auszuschließen, dass er eine TV-Verfilmung des Stückes sah. Andererseits haben solche Klagen vor Gericht in der Regel wenig Chancen, münden aber gelegentlich in außergerichtliche Einigungen. Die Beweisführung ist in solchen Fällen schwer, denn oft handelt es sich um generische Verwandtschaften: In bestimmten Erzählsituationen verfallen Künstler eben auf ähnliche, naheliegende Lösungen. Mancher Ideenklau geschieht unbewusst, er unterläuft dem unschuldigen Dieb einfach.

Guillermo del Toro ist eines der originellsten Erzähltemperamente der letzten Jahrzehnte. Er kennt sich zugleich gut in der Filmgeschichte aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die ersten Teile seiner Trilogie dem spanischen Kinderfilm »Der Geist des Bienenkorbs« viel zu verdanken haben, den ich gerade für einen Text der neuen Ausgabe von epd Film wiedergesehen habe. Im Falle von »The Shape of Water« wiederum hat der Regisseur nie einen Hehl daraus gemacht, dass der Universal-Horrorfilm »The Creature from the Black Lagoon« (Der Schrecken vom Amazonas) eine wesentliche Inspirationsquelle für ihn war. So etwas gehört zum Grundbestand erzählerischer Phantasie und Nachschöpfung, zumal »The Shape of Water« dem Vorbild einen bezeichnenden Dreh gibt: Hier gewinnt endlich mal das Monster das Herz der Heldin.

Originalität ist ein hoher Wert. Aber Kreativität beruht auf Erinnerung. Sie ist immer auch ein Echo. Die Rubens-Ausstellung in Frankfurt führt aktuell vor, wie ein Künstler sich klassische Vorbilder aneignen kann. Er nimmt etwas auf, verändert es nach eigenem Gutdünken, entwickelt es weiter, übertrifft es im besten Fall. Gerade haben Wissenschaftler einer amerikanischen Universität die gesammelten Werke William Shakespeares mit einer Plagiats-Software durchforstet. Schon lange ist bekannt, dass seine Plots aus fremden Quellen stammen. Es steht nicht zu fürchten, dass die ausgewerteten Daten seinen Ruhm nachhaltig schmälern werden.

Der Mail-Verkehr zwischen del Toro und Jeunet ist aufschlussreich. Auszüge kann man im Netz lesen und bei der Gelegenheit auch die beiden Szenen vergleichen. Bei del Toro greifen die Figuren eine Musicalszene auf, die im Hintergrund im Fernsehen läuft. Die Choreographie des Two-step ist hübsch, aber eine naheliegendere Idee als der drollige Matratzentest bei Jeunet. Der französische Regisseur wundert sich, dass ein so talentierter Kollege ohne Not einen Ideendiebstahl begehen könne. del Toro bestreitet ihn natürlich und beschwichtigt ihn: »Wir verdanken Terry Gilliam doch ohnehin alles.« Er verschiebt den Konflikt, für meinen Geschmack zu lapidar, aber ganz verkehrt ist diese Ausflucht nicht. Zu ihr fällt mir ein Diktum des amerikanischen Drehbuchgurus Frank Daniel ein, das ein Freund während der Berlinale zitierte: »Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen.«

Vielleicht ist Neuerfindung ja immer Wiedererfindung. Dennoch ist unser Wunsch, Zuschauer einer originären Inspiration zu sein, mächtig und legitim. Im Stillen denke ich, dass mein Unbehagen in der Causa »The Shape of Water« verfliegen wird; auch ohne gerichtliche Klärung. Natürlich ist es mir immer noch lieber, wenn das Kino nicht das Kino, sondern das Leben imitiert. Noch schöner ist es freilich, wenn der umgekehrte Fall eintritt. Die Nachricht, dass kürzlich ein Häftling aus der JVA in Berlin entkommen konnte, weil er, wie einst Clint Eastwood in »Flucht aus Alcatraz«, die Wärter mit einer lebensechten Attrappe täuschte, amüsiert mich sehr. Und dieser Tage schnappte ich die Meldung auf, dass die Überlebenden und Angehörigen der Opfer des Schulmassakers in Parkland, Florida sich für ihren Protest ein Beispiel an »Three Billboards outside Ebbing, Missouri« nahmen. Das fand ich ein berührendes, nobles Tauschgeschäft. Und sehr kreativ.

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