Netflix: »Inventing Anna«

»Inventing Anna« (Miniserie, 2022). © Nicole Rivelli/Aaron Epstein/Netflix

© Nicole Rivelli/Aaron Epstein/Netflix

So tun, als ob

Eine junge Hochstaplerin, die für ein paar Jahre die New Yorker High Society narrt und Geschäftsleute, Privatpersonen und Hotels um ein paar Hunderttausend Dollar prellt. Ist ein solcher Fall eine große Story? In »Inventing Anna« muss die Journalistin Vivian (Anna Chlumsky aus »Veep«) hart darum kämpfen, ihren Vorgesetzten dazu zu bringen, im Magazin ordentlich Platz dafür freizumachen. Shonda Rhimes dagegen brauchte vermutlich weniger Überzeugungsarbeit. Die nämlich verwandelte die reale Geschichte der Anna Sorokin, die 2017 verhaftet und zwei Jahre später zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, nun in die erste Serie seit »Scandal«, bei der sie nicht nur als Produzentin, sondern auch als Schöpferin und kreative Hauptverantwortliche fungiert.

Grundlage der neun Episoden ist ein Artikel des »New York Magazine« aus dem Sommer 2018. Dessen Autorin Jessica Pressler schrieb schon die Vorlage des Kinofilms »Hustlers« und ist nun, fiktionalisiert als eben jene Vivian, die eigentliche Protagonistin. Hochschwanger beißt sie sich an der Geschichte fest und entwickelt dabei enormen Ehrgeiz. Was einerseits daran liegt, dass sie sich nach einer unzureichend recherchierten Geschichte beruflich rehabilitieren muss; und andererseits daran, dass Anna (Julia Garner, Emmy-Gewinnerin für »Ozark«), die sich unter dem neuen Nachnamen Delvey als reiche, kunstinteressierte Erbin aus Deutschland ausgab, in Wirklichkeit aber aus Moskau und einfachem Hause stammt, sich als ungemein facettenreiche und spannende Figur entpuppt, für die Gier nicht die Hauptmotivation gewesen zu sein scheint.

»Inventing Anna« folgt erzählerisch im Großen und Ganzen Vivians journalistischer Recherchearbeit. Je mehr Vivian sich mit Menschen unterhält, die mit Anna zu tun hatten, desto mehr neue Seiten an ihr tun sich auf. Ihr Anwalt (Arian Moayed), der bald auf kistenweise Beweismaterial sitzt; die gönnerhafte Society-Lady (Kate Burton), die leichtfertig ihre Kreditkarten-Infos aus der Hand gibt; der versierte Banker (Anthony Edwards), der überzeugt davon ist, dass Anna eines sechsstelligen Kredits würdig ist; die Hotelangestellte (Alexis Floyd), die dankbar üppiges Trinkgeld entgegennimmt und zu spät realisiert, wie hoch die offenen Rechnungen sind – sie alle zeichnen ganz unterschiedliche Bilder der Frau, die sie um Geld, Vertrauen und mehr gebracht hat. Luxusgeiles Partygirl? Ambitionierte Aufsteigerin mit Geschäftssinn und dem Traum von einer Mischung aus Künstlerstiftung und Private Members Club? Oder übervorteiltes Opfer eines sexistisch-patriarchalen Systems, in dem jungen Ausländerinnen die meisten Türen verschlossen bleiben? Nicht einmal Besuche bei Anna in der Untersuchungshaft sorgen für echte Klarheit.

Kein Zweifel besteht derweil daran, dass es sich bei »Inventing Anna« um eine Shondaland-Serie handelt. Die Geschichte bietet Raum für viele von Rhimes' Markenzeichen, von komplexen Frauenfiguren und der Möglichkeit für Diversität im Ensemble bis hin zu glamourösen Kostümen und Kulissen, schnellen Schnitten und viel Popmusik.

Kurzweilig ist das in jedem Fall, da tut es auch keinen Abbruch, dass Anna bis zum Schluss ein Rätsel und selbst Vivian als Figur oft etwas vage bleibt. Obwohl zu Beginn ­­jeder Folge betont wird, dass längst nicht jedes Detail der Geschichte wahr ist, wünscht man sich, Rhimes und ihre Mitstreiter*innen hätten sich deutlicher ein eigenes Urteil, eine mutige Interpretation oder zumindest eine These zu diesem Fall gestattet. Die Ansätze sind da, etwa wenn man im Fernsehen Trump bei einer Rede zur Lage der Nation sieht, während darüber diskutiert wird, wie oft Männer »nach oben« stolpern und kaum Konsequenzen zu tragen haben, oder wenn Annas Weg den von anderen berüchtigten Betrügern wie Martin Shkreli oder Billy McFarland, dem Gründer des Fyre Festivals, kreuzt. Doch hinreichend ausgelotet wird das nicht, genauso wenig wie ihre Vorliebe für die Verwandlungskünstlerin Cindy Sherman.

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