Apple TV+: »Die Schlange von Essex«

»Die Schlange von Essex« (Miniserie, 2022). © Apple TV+

© Apple TV+

Von Aalen und Austern

Frauen, die im Dreck wühlen: Was die Londonerin Cora Seaborne (Claire Danes) freiwillig und begeistert tut, erregt bei den Landbewohnern Misstrauen. Die frisch verwitwete Frau ist Amateurpaläontologin und Fossiliensammlerin, eine Passion, die sie in jener spätviktorianischen Zeit mit vielen naturwissenschaftlich Interessierten teilt. Von fern erinnert dieser Plot an das Drama »Ammonite« über die Fossiliensammlerin Mary Anning. Anders als Anning aber, eine historische Figur, ist Cora eine Kopfgeburt, eine Erfindung von Sarah Perry, die 2016 einen von der Kritik gefeierten Bestseller veröffentlichte. Auch die gleichnamige Apple-TV-Serie macht bereits in den zwei vorab zu sichtenden Folgen deutlich, wie geschickt die Autorin in ihrem originellen Roman Ideen und Widersprüchlichkeiten jener Epoche verflicht.

Als Cora eine Zeitungsmeldung über ein mysteriöses Monster liest, das in den Marschlandschaften der Grafschaft Essex sein Unwesen treiben soll, macht sie sich sogleich auf den Weg ins (fiktive) Küstenstädtchen Aldwinter. Ihre Hypothese lautet – Nessie lässt grüßen –, dass das angebliche Ungeheuer ein Überbleibsel aus der Urzeit, ein Plesiosaurier, sein könnte. Bald macht sie Bekanntschaft mit Pfarrer William Ransome (Tom Hiddleston), einem Hobbygelehrten und Familienvater. Trotz konträrer Ansichten freundet er sich mit Darwin-Fan Cora an und verliebt sich in sie. Und er sorgt sich um seine Gemeinde, die sich in eine Massenhysterie hineinsteigert. Die Menschen glauben, dass der mythische Lindwurm, in der örtlichen Kirche in einer Holzschnitzerei verewigt, wiederauferstanden sei und Menschenopfer fordere.

In der Serie wird ein ganzes Bündel zeitgenössischer Themen angepackt: neben Wissenschaftsgläubigkeit vs. Christentum vs. Heidentum, Stadt vs. Land geht es auch um einen Bekannten von Cora, einen Chirurgen, der die erste Operation am offenen Herzen wagt, und um ihre Freundin Martha, die für die Verbesserung der Situation in den Slums kämpft und an Karl Marx glaubt. Das klingt nun recht konstruiert. Und tatsächlich ist Claire Danes als wohlhabende Witwe, die mit ihrer Umtriebigkeit allen auf die Füße tritt, ein emanzipatorischer Anachronismus: zu forsch, die Mimik zu lebhaft, das Haar allzu erdbeerblond, um glaubhaft eine viktorianische Dame darzustellen. Vielleicht wäre die anfangs für die Rolle vorgesehene Keira Knightley die bessere Wahl gewesen. Tom Hiddleston als Pfarrer aber bringt eine seelenvolle Note ins Spiel.

Und all ihre Dispute werden überwölbt von einem verhangenen Himmel, der mit dem nebligen Marschland verschwimmt. Im feuchten Zwischenreich des Flusses Blackwater, zwischen Delta und Nordsee, Aalen und Austern, betritt man schwankenden Boden. Die trügerischen Spiegelungen von Luft und Wasser, die Fischerkaten, vor denen als Abwehrzauber tote Tiere hängen, kreieren eine spukhafte Atmosphäre, die auch den rationalsten Geist ins Wanken bringt. Der schauerromantische Gothic-Charakter der Serie macht Lust auf mehr.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt