Streaming-Tipp: »22. Juli«

© Netflix

Belastungsprobe

Wie soll man Filme drehen über Neonazis, Terroristen oder ihre Vordenker, ohne ihnen zugleich ein Podium zu verleihen und ihr Denken, wie es heute so oft heißt, zu »normalisieren «? Dieser Frage stellt sich der Actionspezialist Paul Greengrass (»Bourne«-Reihe) in seiner Verfilmung der Ereignisse vom 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya mit überraschendem Feingefühl.

Der Zufall will es, dass kaum drei Wochen bevor Greengrass’ Film international auf Netflix startet (am 10.10.), Erik Poppes »Utøya 22. Juli« (am 20.9.) in Deutschland in die Kinos kam. Wo Poppe, dessen Film im Februar auf der Berlinale Premiere feierte, mit seiner Realzeiterzählung des Attentats ganz bewusst die Opfersicht wiedergeben will und Breivik als gesichtslosen Massenmörder nur im Bildhintergrund zeigt, lässt Greengrass ihn in seinem Film von einem Schauspieler interpretieren – als roboterhaften, aber akribisch handelnden Mann mit sehr, sehr fixen Ideen. Es ist ein schmaler Grat, den sowohl der Schauspieler Anders Danielsen Lie (Greengrass dreht mit einem norwegischen Cast) als auch der Regisseur mit der Darstellung beschreiten: Sie wollen Breivik weder zum Antihelden stilisieren noch ihn als mental Derangierten klein oder lächerlich machen. Es geht dem Film auch nicht darum, ihn und seine kruden Ideen nachzuvollziehen oder zu verstehen; in der bemüht-vorsichtigen Art seiner Darstellung wird das Anliegen sichtbar, die Herausforderung darzustellen, die dieser Mann und seine Tat für eine liberale westliche Gesellschaft bedeuten.

»22. Juli« setzt ein mit dem Täter und seiner Vorbereitung zum Bombenattentat in der Hauptstadt. Man sieht, wie Breivik vor der Explosion davonschreitet und sich zur Überfahrt auf die Insel aufmacht. Nur kurz befasst sich der Film mit den Mordtaten dort, den Großteil der Laufzeit verbringt man als Zuschauer dagegen damit, den gesellschaftlichen Schock, die persönliche Trauer und die mühsame Heilung einiger Betroffener sowie den nachfolgenden Prozess gegen Breivik zu verfolgen.

Bemerkenswert an »22. Juli« ist, dass Greengrass zwar die gewohnten Mittel seiner Actionhandschrift einsetzt, mit schnellen Schnitten und vielen wechselnden Schauplätzen, die rasante Sachlichkeit seiner Inszenierung diesmal aber in den Dienst eines gesellschaftlichen Porträts stellt. In jeder Einstellung glaubt man, die Überlegung über den Umgang mit Gewalt und den Ideen von Tätern und Opfern zu spüren. Man spürt deutlich den Willen, dem Terrorakt und den dahinter wabernden rechtsextremen Vorstellungen etwas entgegenzusetzen. So sieht man einen beherrschten Ministerpräsidenten, der in seiner Ansprache die Norweger auffordert, dem Terror nicht nachzugeben, die Gesellschaft eben nicht zu verändern, und dabei ohne aufgebauschten Patriotismus auskommt. Oder einen linksliberalen Verteidiger, der am Recht auch für den Verbrecher festhält und dafür angefeindet wird. Er wird aufgefordert, sein Kind wegen Protesten der anderen Eltern aus dem Kindergarten zu nehmen. Den emotionalen Höhepunkt des Films bildet ein beim Attentat schwer verletzter Junge, der sich dazu durchringt, als Zeuge im Prozess auszusagen. Er will keine Schwäche zeigen – und begreift dann, dass im Schwächezeigen auch Stärke liegen kann. Sie alle sind im Film Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft und ihrer zivilen Würde. Dass man ihnen das Ringen um diese Haltung anmerkt, macht »22. Juli« zu einem sehenswerten und auch hoffnungsvollen Film.

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