Ausstellung »Memoires of the Future« in Brüssel

Chris Marker

Chris Marker

Gemeinhin wird das Aufbewahren nicht als schöpferischer Akt betrachtet. Wer Gegenstände und Eindrücke sammelt, wird eher von pragmatischen als künstlerischen Erwägungen geleitet. Er muss sich beispielsweise mit der Begrenztheit von Raum und Zeit arrangieren. Wenn es ihm jedoch gelingt, diese zu überlisten, beweist er wahre Kreativität.

Zu den erstaunlichsten Exponaten der Chris-Marker-Ausstellung im Brüsseler »Palais des Beaux-Arts« gehört eine Handvoll Fotografien, die so winzig sind, dass sie in einer Streichholzschachtel Platz finden. Mit bloßem Auge ist auf diesen Miniaturen von Gesichtern und Alltagssituationen kaum etwas zu erkennen. Sie sind Zeugnisse aus einer sparsameren Zeit (Marker hat sie Mitte der 1950er Jahre aufgenommen) und sind heute vor allem von poetischem Nutzen. Verschmitzt ahnen sie das Versprechen von Steve Jobs voraus, dank des iPod könne die Menschheit ihr Archiv in der Hosentasche tragen.

»Memories of the Future« heißt die von der Cinémathèque franÇaise übernommene, klug dem neuen Spielort angeschmiegte Schau. Der Titel ist ein naheliegendes Paradoxon, denn Erinnerung und Ausblick sind gleichberechtigte, zentrale Impulse in Markers Werk. Zugleich weckt der Titel Assoziationen an dessen Zeitreisefilm »La Jetée – Am Rande des Rollfelds« von 1962, der ein Paris beschwört, das nach dem Dritten Weltkrieg in Schutt und Asche liegt. Vergangenheit und Zukunft müssen in ihm zur Rettung der Gegenwart aufgerufen werden, was sehr schön das ästhetische Programm dieses Filmemachers benennt, der es wie kein anderer verstand, die drei Zeitebenen in einem einzigen Bildmoment zusammenzuführen. Dem Bezug auf »La Jetée« eignet übrigens auch ein gewisser Nationalstolz, denn der Gründer der belgischen Kinemathek, Jacques Ledoux, fungierte bei ihm als Darsteller und auch Ideengeber.  

In Paris hieß die Ausstellung noch »Die sieben Leben eines Cineasten«, was ebenso bezeichnend ist. Neben dem Sammler von Fundstücken aus einer zeichenhaften Welt, deren Eigentümlichkeiten er mit staunend bewunderndem Blick deutet, präsentiert sie Marker als Mitglied der Résistance, Schriftsteller, Verleger, Anti-Kolonialisten, Dokumentaristen, Erfinder des Foto- und Essayfilms sowie als Multimedia-Künstler, der behende zugriff auf die neuesten Technologien. Zu diesen zahlreichen Facetten gehört auch sein Wirken als Fernsehpionier: 1950 lancierte er mit seinem Freund Alain Resnais die Serie »La clé« des songes, in der allwöchentlich die interessantesten Träume der Zuschauer verfilmt wurden.

Kuratorin Christine van Assche, Mitproduzentin von Markers CD-ROM »Immerory«, hat die Ausstellung als ein Labyrinth angelegt, in dem sich lauter Fenster auf weitere Fenster zu öffnen scheinen. Sie gewährt großzügig Einblick in das Laboratorium eines Künstlers, der die Welt mit emphatischer politischer Neugier bereiste. Als Angelpunkt dieser Erkundungen macht sie die Umbrüche von 1968 kenntlich. Einer der wichtigsten Etappen auf dem Weg dorthin ist ein eigener Raum gewidmet, dem Dokumentarfilm »Auch Statuen sterben« über die Ausbeutung afrikanischer Kunst, den Marker 1953 zusammen mit Resnais drehte und der von der Zensur elf Jahre lang verboten wurde. Der Pariser Mai 68 ist auch der Ausgangspunkt von »Rot liegt in der Luft«, in dem er 1977 eine Bilanz der Revolutionen seit 1967 zieht, die er später mehrfach überarbeitete, aber ideologisch nicht revidierte. In »Sans Soleil – Unsichtbare Sonne« setzte Marker 1982 seine wachen, wehmütigen Erkundungen des Verhältnisses der Ersten zur Dritten Welt fort.

Ohnehin wird in der Schau deutlich, wie entschieden global sein Denken von Anfang an ausgerichtet war. Sie ruft ihn auf als engagierten Chronisten der Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts, der in seinen Filmen über Vietnam und den Pariser Mai stets die anderen Konfliktherde der Zeit mitdenkt, etwa den Prager Frühling und Revolutionen in Lateinamerika. Der Assoziationsreichtum, den seine Filme entfalten, ist atemraubend. Die Bilder zirkulieren in seinem Werk, finden sich an immer neuen Orten und in überraschenden Kontexten wieder. Der Cineast mit den sieben Leben wollte seinen Suchbewegungen keine Grenzen setzen.

Die Ausstellung »Memories of the Future« läuft vom 19. September bis 6. Januar 2019

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