DVD-Tipp: Das Haus nebenan

"Das Haus nebenan" (1969)
Kollaboration und Widerstand: Marcel Ophüls’ meisterhafte Doku
Marcel Ophüls hat den zeitgeschichtlichen Dokumentarfilm erneuert. Im Zentrum stehen bei ihm nicht die großen historischen Zusammenhänge, sondern die Menschen und ihr Alltag. In seinem Vierstundenfilm Das Haus nebenan – Chronik einer französi­schen Stadt im Krieg (1969) rekonstruiert er das Leben in Clermont-Ferrand in den vierziger Jahren während der deutschen Besetzung. 35 Personen erzählen, wie sie diese Zeit  erlebten. Die meisten sind Franzosen, darunter auch einige später prominent gewordene Politiker, vor allem aber Arbeiter, Bauern, Geschäftsleute, Journalisten, Anwälte, Männer der Résistance, in der Mehrzahl aber Angehörige der Bourgeoisie, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten, ob aus Überzeugung oder um der Karriere willen. Auch Engländer, die schwierigen Verbündeten, und ein deutscher Besatzer, der immer noch lächelnd von seinen Untaten erzählt, kommen zu Wort.
 
Ophüls’ Blick ist genau, manchmal unbarmherzig, manchmal voll Mitgefühl, er trifft in die Seelen der Menschen, und wir Zuschauer beginnen, ihre Motive zu verstehen, sehen ihren Mut oder ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihre Schuldgefühle. Der Film zeigt nicht nur die Haltung der Widerstandskämpfer und der Kollaborateure gegenüber den Deutschen, er zeigt auch, wie feindselig und unversöhnlich sich diese beiden französischen Gruppen gegenüberstanden. »Waren denn die Franzosen besser als die Deutschen?« Solche Sätze waren ein Grund, warum der Film erst zehn Jahre später ins französische Fernsehen kam, im Kino war er gelaufen.
 
All diese schweren Themen werden nicht als theoretische Statements vorgetragen, sondern ergeben sich aus den spontanen Äußerungen. Ein spannender, farbiger Film, dem man die Länge kaum anmerkt. Auch das Kino spielt eine Rolle: Mit Schrecken sieht man die Schlussszene von Jud Süß in der französischen Fassung. Das Kino konnte auch ein Schutz sein. Durch die Möglichkeit, mehrere Vorstellungen hintereinander sitzen zu bleiben, war es ein gutes Versteck für Menschen, die sich verfolgt fühlten.
 
Im Laufe des Films wird Chris­tian de la Mazière immer mehr zur zentralen Figur. Ein intelligenter, gebildeter Faschist, als Kriegsfreiwilliger in der deutschen Waffen-SS, nach dem Krieg Künstleragent. Er habe aus seinen Erfahrungen gelernt, heute sei er ein Liberaler. Eine fazinierend-widerwärtige Kinofigur, ein Schauspieler könnte das nicht besser spielen.
 
Frankreich/Schweiz/BRD 1969.
R:  Marcel Ophüls.
L: 248 Min.
Anbieter: absolut medien.
 

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt