Pedro Costa: Poetischer Dokumentarismus

»Vitalina Varela« (2019). © Grandfilm

»Vitalina Varela« (2019). © Grandfilm

Beim Werk von Pedro Costa steigt man am besten früh ein und arbeitet sich ­chronologisch voran. Dann kann man beobachten, wie sich die Filme des Portugiesen von allen ­Erzähl- und Kinokonventionen lösen – um ihren marginalisierten Helden eine eigene Stimme zu geben. Im letzten Jahr hat Costa für »Vitalina Varela« in Locarno den ­Goldenen ­Leoparden bekommen; jetzt startet der Film bei uns im Kino

Splitscreen, ein zersplitterter, in zwei Teile zerfallender Bildschirm. Links das Stillleben eines kleinen Zimmers in einer selbst gebauten Hütte. Der Blick fällt aus dem Dunkel eines anderen Zimmers in diesen verlassenen, dem Verfall anheimgegebenen Raum. Auf dem Boden liegen achtlos verstreute Dinge, Müll und Schutt. Auch den Holztisch bedeckt Müll. Neben dem Tisch steht ein aufgestelltes Bügelbrett. An der Wand im Hintergrund hängt ein nahezu leeres Gewürzregal. Darunter ein wacklig anmutender Stuhl. Tageslicht fällt von links auf die Szenerie, wahrscheinlich durch die offene Haustür, und taucht den Raum in eine Palette staubiger Beige- und Brauntöne.

Das rechte Bild zeigt einen Mann im Dunkel einer anderen Hütte. Er sitzt leicht vorgebeugt vor einer Wand, die indirektes Sonnenlicht in verschiedenen Farben illuminiert. Er selbst zeichnet sich eher schwach davor ab. Nur seine Augen, die nach rechts an der Kamera vorbei ins Leere schauen, sind recht klar zu erkennen. Es ist der Blick eines Mannes, der keine Zukunft hat und von seiner Vergangenheit verfolgt wird. In ihm findet sich eben jene Dunkelheit wieder, die gleich einer Decke über dem Raum liegt. Im Spiel des Lichts auf der Wand scheinen sich die Gespenster, die diesen Mann auf Schritt und Tritt begleiten, zu manifestieren. Schatten, die nichts Bedrohliches mehr haben, die einfach da sind und nicht verschwinden wollen.

Durch die Splitscreen-Technik vereint, führen die beiden Aufnahmen einen regen Dialog. Es ist ein Gespräch über Licht und Schatten, Kunst und Kino, Präsenz und Abwesenheit, die Dauer der Dinge und das Flüchtige des Menschen. Ursprünglich trafen diese bewegten Bildsequenzen, in denen sich allerdings kaum etwas bewegt, neben anderen in der von Pedro Costa 2006 für ein Museum in Rotterdam konzipierten Videoinstallation »Little Boy Male, Little Girl Female« aufeinander. Dort konnte jede Besucherin, jeder Besucher die auf zwei Screens laufenden Aufnahmen im Kopf in- und gegeneinander schneiden. Für die auf DVD veröffentlichte Videoversion hat Pedro Costa diese Arbeit auf den ersten Blick übernommen.

Knapp 35 Minuten währt diese Fassung von »Little Boy Male, Little Girl Female«, die einen mit dem Nebeneinander zweier zunächst unverbundener Aufnahmen konfrontiert, die im Lauf der Zeit wechseln. Während man links auf den verlassenen Raum einer kurz vor dem Abriss stehenden Hütte blickt, folgen rechts mehrere Szenen, die das Leben in diesen improvisierten Häusern illustrieren, aufeinander. Alle Einstellungen, die Costa so zusammenführt, sind Outtakes und bei den Dreharbeiten zu »In Vandas Zimmer« (2000) und »Jugend voran!« (2006) entstanden. Wer diese Filme kennt, wird in einigen der Aufnahmen von »Little Boy« Szenen und Protagonisten wiedererkennen. Aber das macht für die Wirkung der Splitscreen-Installation kaum einen Unterschied.

Jede der Einstellungen steht für sich. Die Räume und die Menschen, die sie zeigen, existieren jenseits aller erzählerischen und dokumentarischen Konventionen. Sie wollen wie Gemälde und Fotografien einfach betrachtet werden. Die Geschichten entstehen dann in der Imagination des Publikums. Vielleicht stellt man sich vor, wer einmal in der verlassenen Hütte gelebt hat. Oder man spekuliert über den Mann, der einsam vor sich hinblickt, und fragt sich, ob er in der Hüttte auf der linken Seite gelebt oder sie gar mit eigenen Händen erbaut hat. Antworten wird man nicht bekommen. Aber jede Frage wirft neue Fragen auf und führt tiefer in eine Welt, die Vanda Duarte in »In Vandas Zimmer« einmal als das »ärmste und erbärmlichste Land« bezeichnet. Das Land, von dem die junge heroinsüchtige Frau voller Wut und Verzweiflung spricht, ist kein Staat. Es hat auch keine Grenzen. Es liegt an vielen, über die gesamte Welt verstreuten Orten. Und seine Bewohnerinnen und Bewohner leben allesamt in den Schatten, wie Gespenster weitgehend unsichtbar. Nur sind sie noch gar nicht gestorben.

Dieses Leben am Rande der westlichen Gesellschaften, in wilden Siedlungen, die als Slums oder Elendsviertel gebrandmarkt werden, oder in billigen, schnell hochgezogenen Sozialbauten, die niemals ein Zuhause sein können, wird im Kino leicht zum Klischee. Denn selbst sozial und politisch engagierten Filmemachern gelingt es nicht immer, die Distanz zwischen sich, die nur Besucher in dieser Welt sind, und 
denen, die tagein, tagaus in ihr leben, ganz zu überwinden. Ihr Blick ist nie wirklich frei. Ihre Bilder erliegen einer Form von hehrer Romantisierung, oder sie werden wie etwa in Ken Loachs Filmen zum Instrument des politischen Kampfes.

Die Aufnahmen, die Pedro Costa in »Little Boy Male, Little Girl Female« nebeneinanderstellt und aufeinanderfolgen lässt, kommen dagegen tatsächlich aus dem Innersten des mittlerweile zerstörten und weitgehend verschwundenen Viertel Fontainhas, einer Siedlung am Rande von Lissabon, die vor allem von Migranten aus den damaligen afrikanischen Kolonien Portugals erbaut wurde. In Costas Bildern von Menschen und Räumen, in den Straßenszenen und den Dokumenten der Zerstörungen, die in dieser Installation präsent sind, löst sich jede Form von Distanz auf. Es sind Blicke aus und nicht auf Fontainhas. Blicke, die den Betrachter in die verlassene Hütte und das dunkle Zimmer, in dem der Mann sich seinen Geistern überlässt, versetzen.

Diese ganz seltene Form der absoluten Immersion stellt sich in allen Arbeiten des am 30. Dezember 1958 in Lissabon geborenen Filmemachers ein. Sie umschließen ihr Publikum, transponieren es. Aber eben nicht im Sinne einer makellosen Hollywood-Fiktion, die die reale Welt um uns herum auslöscht. Im Gegenteil, spätestens seit »Casa de Lava« (1994), seinem zweiten Spielfilm, versetzen Costas Filme den Zuschauer mit aller Wucht in die Wirklichkeit. Sie löschen die Überreste der Blockbuster-Lügen und der Popkultur-Versprechungen, die wir alle mit uns herumschleppen, aus. Filme wie »In Vandas Zimmer« oder »Jugend voran!«, »Horse Money« (2014) oder nun »Vitalina Varela« zu sehen, bedeutet, alles, was man zu wissen meint, noch einmal radikal zu hinterfragen.

Die Entschlossenheit, mit der Pedro Costa seine Vision von Filmkunst verfolgt, ist in gewisser Weise ein Kennzeichen des portugiesischen Kinos. In den 1960er Jahren, als parallel zu anderen europäischen Aufbruchsbewegungen das »Novo Cinema« entstanden ist, haben Regisseure wie Manoel de Oliveira und Paulo Rocha mit ihren vom Neorealismus beeinflussten Arbeiten eine Traditionslinie begründet, die immer noch Einfluss auf das Filmschaffen hat. Miguel Gomes, der in dem autofiktiven Epos »Our Beloved Month of August« und in seiner »1001 Nacht«-Trilogie von den sozialen und politischen Umbrüchen im Portugal des 21. Jahrhunderts erzählt, und Pedro Costa gehören dabei durchaus zu den Erben dieser Pioniere. Allerdings wurzelt Costas Radikalität nicht nur in dieser Tradition. Sie reicht noch viel tiefer. So ist er in seiner Haltung und seiner Ästhetik letzten Endes Filmemachern wie Jean-Marie Straub und Danièle Huillet näher als Manoel de Oliveira.

Am Anfang von »Das Blut«, Costas 1989 entstandenem Spielfilmerstling, steht eine Ohrfeige, die aus dem Nichts zu kommen scheint. Martin Schäfers Kamera steht dem 17- oder 18-jährigen Vincente (Pedro Hestnes) direkt gegenüber und blickt ihn unverwandt an. Plötzlich kommt eine Hand ins Bild, die Vincente schlägt und den Blick der Kamera als subjektive Perspektive seines Vaters enthüllt. Ein harter Schnitt rückt ihn ins Bild. Nun ist es Vincente, der ihn anblickt, diesen alt gewordenen, vom Leben und von Krankheit gezeichneten Mann, dessen Körper sich hart von der tristen Winterlandschaft hinter ihm abzeichnet und doch mit ihr eins zu sein scheint. Er gleicht dem leeren, abgeernteten Feld, das sich zum Horizont erstreckt.

Gleich ahnt man, dass diese Landschaft die Menschen formt. Sie raubt ihnen die Kraft und die Hoffnung. Und man ahnt, dass Costas von Erinnerungen an das Kino von Friedrich Wilhelm Murnau und Jacques Tourneur, John Ford und Frank Borzage erfülltes Debüt an die Wurzeln der Märchen­traditionen führen wird, also zu einem Leben in Mangel und Schweiß. Die Schönheit von Martin Schäfers extrem kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern, steht dabei in keinem Widerspruch zur Präzision von Costas Beobachtungen und Milieuzeichnungen. Indem er sich auf Vincente, seine etwa gleichaltrige Freundin Clara (Inês de Medeiros) und seinen kleineren Bruder Nino (Nuno Ferreira) konzentriert, kann Costa der harschen Realität mit einer von Kino-Märchen wie Murnaus »Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen« (1927) oder Charles Laughtons »Die Nacht des Jägers« (1955) geprägten Imagination begegnen.

Die Perspektive der Jugendlichen und Kinder verzaubert die elende Wirklichkeit eines Lebens in Unsicherheit und Angst. Zugleich schärft sie aber auch den Blick für die Verhältnisse, in denen es allein um Geld und Macht geht. Die direkt aus einem klassischen Film noir kommenden Gangster, die Vincente unter Druck setzen, um an das Geld zu kommen, das sein Vater unterschlagen hat, sind zugleich Gewerkschafter. Die Mythen des Kinos und die Realität eines Landes, das sich auch mehr als zehn Jahre nach dem Ende des von António de Oliveira Salazar 1933 verkündetem »Estado Novo« noch an den Strukturen des faschistischen Systems abarbeitet, fallen in Costas melancholischer Coming-of-Age-Erzählung zusammen. Die Sehnsucht nach einer funktionierenden Familie, die Vincente treibt, ist übermächtig, aber nicht zu realisieren.

Die Ohrfeige, die Vincente von seinem Vater erhält, trifft auch das Publikum. Sie ist ein Schlag ins Gesicht, der den Zuschauer aus dem Schlaf des Alltäglichen reißt und für alles Kommende sensibilisiert. Und sie hallt seither durch alle Filme Pedro Costas. Sie fordern eine andere Sicht, eben jenen freien und wachen Blick auf Menschen und Orte, den der Regisseur selbst immer wieder sucht.

Auf den Schlag in »Das Blut« folgt der Sturz, mit dem »Casa de Lava« beginnt. Leão (Isaach De Bankolé) hat seine Heimat, ein Dorf auf Kap Verde, verlassen, um auf den großen Baustellen Lissabons Geld zu verdienen. Eines Tages stürzt er von einem Gerüst und fällt in ein Koma. Nach zwei Monaten erhält die Klinik, in der er liegt, Geld und eine anonyme Anweisung, Leão soll in seine Heimat überführt werden. Zusammen mit ihm reist die von Inês de Medeiros gespielte Krankenschwester Mariana auf die Insel vor der Westküste Afrikas, die einst eine Sklavenkolonie war und später Standort für ein Konzentrationslager des Salazar-Regimes wurde. Wie die Krankenschwester in Jacques Tourneurs »Ich folgte einem Zombie«, der Costa als eine Art Vorlage für seinen Film diente, wird auch Mariana zur Flaneurin in einer ihr absolut fremden Welt. Trotz all ihrer Begegnungen mit den Menschen auf der Insel bleibt sie eine Außenstehende, eine, die sich verliert und nicht neu finden kann. Ganz im Gegensatz zu ihrem Schöpfer.

Pedro Costa hat sich im Lauf der Dreharbeiten zu »Casa de Lava« entschieden, sein ursprüngliches Drehbuch beiseitezulegen. Als Filmemacher, der mit einer vorgefertigten Geschichte zum Drehen nach Kap Verde kam, war er zunächst eine Art Nachfahre der portugiesischen Kolonialherren. Doch diese Position hat er schnell hinter sich gelassen, indem er den Menschen, die er und sein Kameramann Emmanuel Machuel gefilmt haben, die Freiheit gegeben hat, ihre Geschichten zu erzählen. Fiktion und Dokumentation vermischen sich in »Casa de Lava« auf eine sehr eigene, für sein späteres Werk typische Weise. Die aus den Dörfern kommenden Laiendarsteller werden zu Ko-Autoren des Films, der seine ursprüngliche Geschichte zugunsten ihrer Erzählungen mehr und mehr aus den Augen verliert. Auf der einen Seite scheint Costas Film vollständig zu zerfasern. Auf der anderen findet er zu einer Haltung und einem Ton, die die poetische Genrefiktion von Ich folgte einem Zombie mit der sozialen Wirklichkeit des Lebens in einer ehemaligen Kolonie auf verblüffende Weise zusammenbringen. »Casa de Lava« geht nur indirekt auf die traumatische Geschichte Kap Verdes ein. Kurze Bemerkungen und die fiktionale Geschichte einer weißen Frau, die ihrem in dem Konzentrationslager verstorbenen Mann auf die Insel gefolgt ist, genügen Costa, um eine Historie von Gewalt und Ausbeutung, von Leid und Verzweiflung zu umreißen. Denn die Geschichte Kap Verdes ist in den Gesichtern und den Körpern ihrer Einwohner immer gegenwärtig.

»Casa de Lava« ist der Film, der alles für Pedro Costa verändert und ihn auf den Weg geführt hat, dem er seither folgt. Das hat zum einen ganz pragmatische Gründe. Die Einwohner der Dörfer Kap Verdes haben ihm, dem Portugiesen, der nach den Dreharbeiten wieder zurück nach Lissabon kehrt, Geschenke für ihre Verwandten und Freunde mitgegeben, die ihre Heimat verlassen haben, um in Lissabon zu arbeiten. Diese Geschenke haben Costa Mitte der 1990er Jahre nach Fontainhas geführt, in dieses Viertel aus selbst gebauten Hütten und Häusern, das etwa zehn Jahre später durch Bau- und Sanierungsmaßnahmen der Stadt verschwunden ist. Zum anderen hat er während der Dreharbeiten in Kap Verde einen Weg gefunden, das einst von Jean-Luc Godard ausgegebene Diktum, statt politischer Filme Filme politisch zu machen, für sich zu realisieren.

Seit »Casa de Lava« sind Costas Werke nahezu einzigartige Kollaborationen zwischen ihm und seinen (Laien-)Darstellern. Auf der einen Seite inszeniert er jede Szene mit einer ungeheueren Präzision, so dass jeder noch so minimale Wechsel des vorgefundenen Lichts eine überwältigende Wirkung entfaltet. Außerdem probt er alle Szenen sehr genau und dreht immer mehrere Takes. Eine Technik, aus der nicht nur Material für »Little Boy Male, Little Girl Female« hervorgegangen ist. Diese Arbeitsweise hat es ihm auch ermöglicht, aus verschiedenen Takes, die unterschiedliche emotionale Färbungen in sich tragen, drei zusammenhängende und doch jeweils für sich stehende Kurzfilme, »Tarrafal« (2007), »The Rabbit Hunters« (2007) und »O nosso homen« (2010), zu realisieren. Von einem zum anderen wiederholen sich Szenen, aber die Nuancen des Materials eröffnen jeweils neue Perspektiven und Einblicke.

Und damit ist man auf der anderen Seite von Costas Schaffen angekommen. Als Erzähler tritt er ganz hinter seine Darsteller zurück. Sie erzählen ihre Geschichten und erspielen sich so ihr Leben neu. Vor der Kamera bekommen sie eine Macht über das, was ihnen widerfahren ist, die sie im Alltag nicht haben. Die unterschiedlichen Varianten der Szenen in den drei Kurzfilmen offenbaren damit Facetten ihrer Protagonisten, die sich über die Filme hinweg zu einem großen und vielschichtigen Porträt zusammenfügen.

Bei »Haut und Knochen« (1997), seinem ersten in Fontainhas entstandenen Film, hat Pedro Costa noch mit einer 35-mm-Kamera und einer großen Crew gearbeitet. Das Ergebnis ist zwar schon ein zutiefst persönlicher Blick auf die, die sich in den dunklen und engen Häusern des Viertels eine Welt erschaffen haben, die sie und ihr Leben widerspiegelt. Aber Costa hat die Arbeit mit der aufwendigen Technik und den vielen Filmprofis als eine Art von Eindringen empfunden. Seine Protagonisten mussten auf ihren Alltag verzichten, um ihn dann für Emmanuel Machuel und seine Kamera nachzuspielen. Am Ende hat er eine Form gefunden, die dieses Eingreifen ins Leben der Menschen in Fontainhas zumindest in Teilen aufwiegt. Die Geschichte um eine junge Frau, die ihr neugeborenes Kind verlässt, und dessen Vater, der das Baby verkaufen will, löst sich in einer Folge grandioser Einstellungen zunehmend auf. Der Fotokünstler Jeff Wall spricht deshalb in einem kleinen DVD-Feature zu »Haut und Knochen« von »der Schwere der Bilder« und von ihrer Eigenständigkeit, die den Fokus von der Erzählung auf das verschiebt, was in den Bildern geschieht, das Spiel des Lichts, die kleinen Gesten der Darsteller, ihre Blicke und Gewohnheiten. In Craig Kellers auf der britischen DVD von »Jugend voran!« (Colossal Youth) und auf Vimeo veröffentlichtem Interview-Film »Finding the Criminal« (2010) beschreibt Costa das Verhältnis zwischen seinen Filmen und den Einstellungen, aus denen sie entstehen, noch etwas anders. »Jede Einstellung ist ein Film für sich«, sagt er und beschreibt damit eine Form des filmischen Erzählens, die sich von klassischen Handlungsdramaturgien löst. Costas Filme sind ›demokratische Kunstwerke‹, in denen alle Szenen und Einstellungen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Das macht es auch so schwer, sie zu beschreiben. Im Prinzip müsste man jede Einstellung en détail würdigen, um diesen Arbeiten in ihrer Welthaltigkeit gerecht zu werden.

»Horse Money« (2014). © Grandfilm

Nach den strapaziösen und aus Costas Sicht übergriffigen Dreharbeiten zu »Haut und Knochen« hat er sich komplett von der alten analogen Filmtechnik gelöst. »In Vandas Zimmer«, »Jugend voran!«, »Horse Money« und »Vitalina Varela« wurden mit DV-Kameras und natürlichen Lichtquellen, höchstens durch die Verwendung von Spiegeln intensiviert, gedreht. Und im Zuge dieser Filme hat Costa die Möglichkeiten, die digitale Kameras Filmemachern bieten, auf eine bisher einzigartige Weise ausgeschöpft. Seine Bilder sind Skulpturen aus Licht und Schatten. Ihr eindrucksvolles Chiaruscuro-Spiel, das ebenso auf die Gemälde der Renaissance wie auf die Schwarz-Weiß-Kompositionen des deutschen expressionistischen Kinos und seiner Ausläufer in der Traumfabrik zurückgeht, fängt neben dem Sichtbaren immer auch das Unsichtbare ein.

Die Heroin rauchende Vanda lebt zwar ganz im Moment, aber die Schatten der Vergangenheit, ihrer eigenen wie auch der ihres Landes, sind in Costas Bildern fortwährend präsent. Während sie auf ihrem Bett sitzt, Drogen nimmt und über das Elend des Lebens spricht, dringt von außen, von jenseits des Bildkaders, der Baulärm ins Bild ein, der die Zerstörung ihrer Welt verkündet. Was im Moment des Drehs noch gegenwärtig ist, wird schon bald danach verschwunden sein. Der Verlust dieser Welt der Migranten hat sich tief in Costas Filme eingeschrieben. Seit »Jugend voran!« sind sie nicht mehr nur Panoramen des Lebens ihrer Darsteller, sondern immer auch Geisterbeschwörungen. In »Horse Money« tritt der alte Ventura, der sich in »Jugend voran!« als Vater all der jungen Menschen von Fontainhas gesehen hat und sich zugleich an die Zeit während der Nelkenrevolution erinnerte, in der er sich in seiner Hütte verstecken musste, in ein Zwischenreich aus Erinnerungen und Albträumen, aus imaginierten und realen Begegnungen, in dem sich die Zeit aufzulösen scheint. Geister verfolgen ihn, und er ist selbst auch schon ein Geist.

Diese Überlagerung der Ebenen und Zeiten prägt auch »Vitalina Varela«. Allerdings bringt die Geschichte von Vitalina, die 2013 nach dem Tod ihres Mannes nach Portugal kommt, eine neue Perspektive in den Fontainhas-Kosmos. »Jugend voran!« und »Horse Money« sind Filme der Männer, die ihre Heimat und ihre Familien verlassen und sich dann in Portugal verloren haben. Natürlich haben auch sie einen hohen Preis für ihre Entscheidungen bezahlt. Aber Vitalinas Leben ohne ihren Mann, der sie in Kap Verde zurückgelassen hat, ist noch viel traumatischer. Es ist tatsächlich ein Geister-, ein Schattenleben, das sich nur über das definiert hat, was fehlte, eben ihre große Liebe. Diesen unendlichen Schmerz gießen Vitalina Varela und Pedro Costa in Bilder von erhabener Größe und tiefster Schwärze. Es ist ein Kino der Gespenster, das schließlich in einem neuen Leben ankommt. Einem Leben, das als Traum und Sehnsucht auch schon über Costas früheren Arbeiten schwebte, aber nicht zu greifen war.

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