Genre-Mix: Der Superfantasyliebesthriller

... über die Verflüssigung eines filmhistorischen Begriffs
© Walt Disney/Marvel

© Walt Disney/Marvel

Wenn man von einem Genre spricht, weiß man gleich, womit man es zu tun hat? Stimmt nicht. Denn das Kino, das der Begriff beschreibt, befindet sich ständig im Umbruch.

Jeder kennt Genres: Krimi, Romanze, Western, Horror, Science Fiction ... Auch die Komödie wird oft als Genre ­bezeichnet. Und man geht noch weiter: So gibt es Actionthriller, Horror­komödien, Neowestern – alle Arten von hybriden Kompositbegriffen scheinen denkbar. Genre gehört zu den Begriffen, deren jeweilige Definition am unmittelbarsten mit dem populären Verständnis von Film verbunden ist. Doch dieses landläufige Verständnis von einem vermeintlichen Kanon der Filmgenres macht die wissenschaftliche Analyse des Phänomens besonders problematisch, wie die vielschichtige Genrediskussion der letzten Jahre gezeigt hat.

Unter einem Filmgenre wird zunächst einmal eine Gruppe von Filmen verstanden, die unter einem spezifischen Aspekt Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Gemeinsamkeiten können in einer bestimmten Erzählform, einer speziellen Grundstimmung, in Handlungssujets, der Figurenkonstellation, in historischen oder räumlichen Bezügen bestehen. Auch Intentionen können Genres verbinden: etwa die, Spannung zu erzeugen oder zu belustigen.

Das Genre in der ­Filmgeschichte

Zunächst spielte die Differenzierung von Filmgenres in der Frühphase des Hollywood-Studiosystems eine Rolle: Man drehte Filme nach bestimmten Schemata, mit bestimmten Stars und an denselben Drehorten. Dieses Vorgehen befriedigte die wachsende Nachfrage des Stummfilmpublikums nach spezifischen Stoffen und optimierte die Dreharbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht. So entstanden die frühen Filmgenres aus logistischer Notwendigkeit, und zwar nicht nur in den USA, sondern weltweit und insbesondere auch im ­Kino der Weimarer Zeit.

In den USA, wo sich früh ein konventionalisiertes Studiosystem etabliert hatte, kristallisierten sich um 1930 – also rund um die ­Konventionalisierung des Tonfilms – einige Primärgenres heraus, die sozialen Entwicklungen Rechnung trugen (Gangsterfilm), die Schauerfantastik ins Kino ­holten (Universal-Horrorfilme) oder den größtmöglichen Nutzen aus der Verwendung synchronen Tons zogen (­Musicals und Revuefilme). Auch Western und Komödien waren fest etabliert. In Deutschland drehte man heimatorientierte Bergfilme und schuf damit ein eigenständiges Hybrid-Genre, das rück­blickend zwischen Abenteuerfilm und Heimatfilm anzusiedeln ist.

In jenen Jahren unternahmen Filmjournalisten wie Siegfried Kracauer oder Rudolf Arnheim bereits erste Versuche, diese »konfektionalisierte« Filmproduktion zu reflektieren, und letztlich säten sie damit auch einen lange gehegten Vorbehalt gegen das Genrekino: nämlich den, unoriginell und trivial zu sein. Eine theoretische Reflexion von Filmgenres setzte erst spät ein. Erste Versuche unternahmen André Bazin in Frankreich (1954) und Robert Warshow in den USA (1954). In Deutschland sprach Rudolf Arnheim 1932 in »Film als Kunst« noch abwertend vom Genrekino als »Konfektionskino«. Eher galt der singuläre, genreunabhängige Autorenfilm als Königsdisziplin des Filmschaffens. Die Autoren der Cahiers du cinéma entdeckten dann den amerikanischen Genre Auteur und feierten die Virtuosität der sogenannten Professionals, die im besten Fall zum »Maverick Director« wurden, der den Genrekontext nutzt, um seine persönliche Handschrift und seine vision du monde umzusetzen. Erst die 1970er Jahre brachten eine differenziertere Genretheorie, zunächst in den USA (Barry Keith Grants »Film Genre Reader«, ab 1977), dann auch in Deutschland (Georg Seeßlens »Geschichte und Mythologie des Films«, ab 1979).

Genre und Gattung

Ist der Dokumentarfilm ein Genre? Womöglich würde man auch hier unterschiedliche Antworten bekommen. Tatsächlich unterscheidet man im Film Genres und Gattungen. Die – wie in der Literaturwissenschaft übergeordneten – Gattungen bezeichnen die filmische Form: Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm, Kurzfilm, Lehrfilm, Animationsfilm, Propagandafilm oder Industriefilm. Diese Gattungen unterscheiden sich bereits grundlegend in der Art des vorfilmischen Materials (real oder inszeniert), ihrer Intention (Unterhaltung oder Information) und natürlich ihrer Laufzeit und des Formates. Im Unterschied hierzu sind die Genredefinitionen erheblich inhaltlicher motiviert. Andere Gruppierungsmerkmale von Filmen wie Stumm- oder Tonfilm, Schwarz-Weiß- oder Farbfilm, 2D- oder 3D-Film bleiben technische Spezifikationen jenseits von Genre oder Gattung.

»Alien« (1979). © 20th Century Fox

Wie Knut Hickethier in seiner Bestandsaufnahme »Genretheorie und Genreanalyse« (in dem von Jürgen ­Felix herausgegebenen Band »Moderne Film Theorie«, Mainz 2002) feststellt, hat sich im Laufe der Zeit eine enorme (dreistellige) Zahl von Genredifferenzierungen ergeben, die vor allem im alltäglichen Gebrauch – etwa in Fernsehzeitschriften – immer neu konstruiert werden. Dieses Phänomen erklärt sich durch das Bedürfnis, bereits in der Genrebezeichnung eine verbindliche Aussage über Stil und Inhalt eines Films zu treffen. Dabei werden vor allem verschiedene Genres miteinander verschmolzen und ein Genresynkretismus, eine Genrehybridität konstatiert.

Genrehybride, ­Genremodalität und Genrediskurs

Es haben sich in den letzten Jahren drei wesentliche Begriffe in der Genrediskussion etabliert, die eine jeweils neue Perspektive auf das Genrekino anlegen und die essenzialistische ­Definition von generischen Idealtypen vermeiden oder differenzieren.

Hybridität bezeichnet hier ein Mischphänomen, das zu gewissen Anteilen verschiedene Genreelemente aufweist. Quentin Tarantinos Genrevariationen sind fast durchweg hybrid: In »Kill Bill« (2003) mischt er Kung-Fu-Film, Western, Samuraifilm, Psychothriller und Gangsterfilm mit Elementen der Popkultur zu einem ­hybriden Novum, das sich zwar in Genrebausteinen ­beschreiben lässt, sich aber einer konkreten Zuordnung entzieht.

Quentin Tarantino am Set von »Kill Bill: Vol. 1« (2003)

Modalität bezeichnet die Art und Weise, wie ein Film erzählt wird – und die kann durchaus genreüberschreitend sein: »Alien« (Ridley Scott, 1979) etwa ist streng genommen ein Science-Fiction-Film; er erzählt seine Fabel von der außerirdischen Invasion, allerdings im Modus des psychologischen Horrorfilms. Elemente beider Genres sind idealtypisch gedacht präsent (das Raumschiff, das Weltall, ein fremder Planet, die Zukunft ebenso wie das Fremde, das Monstrum, das Unheimliche, die Auflösung des Körpers).

In meiner Genreforschung der letzten Jahre hat sich vor allem gezeigt, dass die aktuelle Genrefrage nur als ­Diskurs zu begreifen ist. Ein Diskurs ist die Summe der Meinungen, die zu einem bestimmten Thema kursieren – und diese umfasst letztlich alle erwähnten Ansätze, seien es Synkretismen, Hybride und Modalitäten. Es geht um mehr als die beschreibbaren inhaltlichen Elemente, es geht um lokale, epochale und ökonomische Aspekte, die in der klassischen Genreforschung nicht immer berücksichtigt wurden. Auch die Dominanz und Definitionsmacht des US-amerikanischen Kinos bröckelt angesichts weltweiter Phänomene wie indischem Bollywoodkino, japanischen Jidai-geki (Historienfilmen) oder afrikanischen Videoproduktionen. ­Genre ist ein ebenso globales wie lokales ­Phänomen.

Der Superheldenfilm – ein Genre-Cocktail

Um den aktuellen Genrediskurs zu verdeutlichen, bietet sich ein Blick auf die Rezeption des amerikanischen Blockbusterkinos an. Dieses wird zweifellos dominiert von den fast durchweg höchst erfolgreichen und teuer produzierten Comicadaptionen von Marvel und DC. Das führte zu einer Wahrnehmung dieser Filme als Genrephänomen: Sind die als Superheldenfilme, Comicfilme oder Marvel/DC-Filme diskutierten Beispiele als eigenes Genre zu betrachten?

Im Sinne der klassischen, »essenzialistischen« Genretheorie müsste man feststellen, dass hier spektakuläre Actionszenen mit übernatürlichen Elementen kombiniert werden. Die Superheldinnen und -helden sind ­übernatürliche Wesen und erzeugen einen sense of wonder, wie ihn sonst vor allem der Fantasyfilm bietet. Doch insofern etwa der Protagonist in »Superman« (Richard Donner, 1978) eine außerirdische Herkunft hat, müsste man hier streng genommen von Science Fiction sprechen. »Batman Begins« (Christopher Nolan, 2005) oder die »X-Men« (Bryan Singer, 2000) würden ebenfalls hier eingeordnet, da sie auf wissenschaftlichen Technikspekulationen aufbauen. »Thor« (Kenneth Branagh, 2011) und »Wonder Woman« (Patty Jenkins, 2017) beziehen sich dagegen auf klassische germanische und griechische Mythologien, wodurch sie dem italienischen Fantasykino der 1960er Jahre nahestehen. Und der erste große Marvel-Comic-Held im Kino, »Conan der Barbar« (John Milius, 1982), ist wohl eindeutig der heroischen Fantasy zuzuordnen. Elemente von Gangsterfilm (»Suicide Squad«, David Ayer, 2016), Polizeifilm (»Batman Begins«), Kung-Fu-Film (»Daredevil«, Mark Steven Johnson, 2003), Horrorfilm (»The Dark Knight«, Christopher Nolan, 2008), Abenteuerfilm (»Black Panther«, Ryan Coogler, 2018) kommen hinzu.

»Black Panther« (2018). © Walt Disney

Das führt zur berechtigten Annahme, dass diese Filme letztlich Genre-hybride sind, die man in jedem Fall neu definieren müsste. Sie mischen bereits etablierte klassische Genres in unterschiedlichen Anteilen, um den Zuschauererwartungen gerecht zu werden.

Hier erweist sich der Begriff der Modalität als besonders hilfreich. Die vom Regisseur James Mangold für den Heimmedienmarkt erstellte Schwarz-Weißfassung von »Logan – The Wolverine« (2017) etwa verbindet in der Figur des von Hugh Jackman verkörperten Wolverine Science Fiction (das Metallskelett, die futuristische Technik), Horror (das Werwolfmotiv) und Fantasy (die Gesellschaft der Mutanten als übermenschliche Subkultur). Dies alles wird jedoch im Modus eines Verschwörungsthrillers erzählt: Logan und seine ›zugelaufene‹ Ziehtochter müssen vor machtgierigen Verfolgern fliehen – die fantastischen Elemente kommen eher beiläufig vor. Der Alterungsprozess Logans zeigt Spuren ­eines Male Melodramas. Die Geschichte des Mädchens mutet wie ein Coming-of-Age-Film an. Und die schwarz-weiße Bildästhetik bedient sich des Modus' klassischer Kriminalfilme der 1940er Jahre, die man im Epochalstil des Film noir zusammenfasst. Mit einem Wort ist dieser Film also nicht zu beschreiben. Er entspringt vielmehr einem hoch aktuellen Genrediskurs, der multi­modale, hybride Formen hervorbringt, die vom Publikum letztlich in einem neuen Begriff zusammengeführt werden: dem Superheldenfilm. Aber auch der greift zu kurz …

Die mediale Welt wird zunehmend komplexer, und mit der steigenden ­Medienkompetenz des Publikums werden sich die Medienprodukte – Filme und Serien – dieser Komplexität weiter anpassen. Sie schöpfen buchstäblichen aus der Fülle der Geschichte, der populären Ikonographie und Mythologie, und aus der Globalisierung der Gesellschaften, die neue Publikumsgruppen entdecken, mit neuen transkulturellen und gendertheoretischen Konzepten umgehen. Daraus mag, wie im Fall von »X-Men«, »Wonder Woman« und »Black Panther«, ein neues Kino entstehen, das doch zugleich unendlich vertraut erscheint: So vertraut, wie es das Genrekino immer schon war, denn es gehört am Ende seinem Publikum.

Über den Autor

Marcus Stiglegger, Film- und Kulturwissenschaftler in Berlin, untersucht das Genrekino seit vielen Jahren. Nach den Reclam-Bänden »Western« und »Kriegsfilm« (beide als Mitherausgeber) hat er nun das umfassende »Handbuch Filmgenre« (Springer Verlag, 2018) zusammengestellt, das aktuellen Forschungs­positionen Rechnung trägt und zugleich ­klassische Ansätze dokumentiert.

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