Alice Rohrwacher im Interview

»Ich werfe ein Netz aus und fange einen Fisch«
Alice Rohrwacher (2018). © Lacombe

Alice Rohrwacher (2018). © Lacombe

Alice Rohrwacher ist eine wahrhaft unabhängige Filmemacherin. Schönheit im konventionellen Sinn interessiert sie nicht und schon gar nicht will sie cool sein. Sie sucht und forscht, auch in der Geschichte des Kinos. Thomas Abeltshauser hat sie zu »La chimera« befragt, dem Abschluss einer Trilogie über das ländliche Leben in Italien

In der Mythologie ist die Chimäre ein Mischwesen, zusammengesetzt aus mehreren Tieren, das immer wieder neue Formen annehmen kann und schwer zu fassen ist. Der Titel des neuen Films von Alice Rohrwacher, La chimera, trifft auf eine Art auch auf die Regisseurin selbst zu. Wie kaum eine andere Filmemacherin des europäischen Gegenwartskinos hat sie sich in nur vier Langfilmen eine Ausnahmestellung und einen kreativen Freiraum geschaffen, der ihr eigenwilliges Werk schillernd und unverwechselbar macht, abseits der italienischen Filmindustrie. 

Geboren 1981 als Tochter eines Deutschen und einer Italienerin, wuchs Rohrwacher in der Kleinstadt Fiesole bei Florenz auf, zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Alba, die sie später regelmäßig als Darstellerin besetzt. Nach dem Literatur- und Philosophiestudium in Turin arbeitete Alice Rohrwacher zunächst im Dokumentarfilmbereich, bevor sie 2011 mit »Für den Himmel bestimmt« (Corpo celeste) ihr Spielfilmdebüt gab und damit in die Quinzaine des réalisateurs eingeladen wurde. Seitdem ist Alice Rohrwacher Stammgast in Cannes. 2014 lief ihr zweiter Spielfilm »Land der Wunder« (Le meraviglie) im Wettbewerb und wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, für »Glücklich wie Lazzaro« (Lazzaro felice) erhielt Rohrwacher 2018 den Preis für das beste Drehbuch. Der Kurzfilm Le pupille über eine rebellische Schülerin in einem katholischen Mädcheninternat wurde letztes Jahr für einen Oscar nominiert. 

Immer wieder rückt sie in ihren unabhängig produzierten Filmen das Leben auf dem Land ins Zentrum und damit Außenseiter der ­Gesellschaft, oft elliptisch erzählt, in einem märchenhaften Ton, visuell anspielungsreich und verrätselt. Ihr neuer Film La chimera handelt von einer Bande, die in den 1980er Jahren nachts etruskische Grabstätten plündert und die Fundstücke auf dem Schwarzmarkt zu Geld macht. Mit dem in Latium und der Toskana gedrehten Film beschließt Alice Rohrwacher eine Trilogie über das ländliche Italien und den Umgang mit dessen Vergangenheit. 

Ein Gespräch über die Verbindungen von Geschichte und Gegenwart, künstlerische Freiheit und die Archäologie des Kinos. 

Frau Rohrwacher, in »La chimera« reflektieren Sie auf mehreren Ebenen den Umgang mit Vergangenheit und Erinnerungen. Was war Ihnen dabei wichtig?

Alice Rohrwacher: Vielleicht sind wir in dieser Zeit daran gewöhnt, dass Filme sich nur mit einem Thema, einem Gegenstand befassen, aber das Leben ist vielfältiger. Es ist ein Tier, das in viele Richtungen geht. Mit meinem Film wollte ich dem Rechnung tragen. La chimera ist auch ein Film über das Schicksal. Vom ersten Moment an verstehen wir, dass Arthurs Schicksal ein tragisches ist. Aber das hindert uns nicht, darin auch Ablenkung und Freude zu sehen, zu lachen, zu lächeln, Zärtlichkeit und Liebe zu empfinden. Politisch gesehen stellt sich bei der Geschichte einer Gruppe von Männern, die 
die Vergangenheit ausgraben, um damit Geld zu verdienen, um Geschichte zu verkaufen, natürlich die große Frage, was man mit der Vergangenheit macht, ob man sie vergisst oder verherrlicht, ob man sie verändert. Was wollen wir in Erinnerung behalten? Und wie? Die Tombaroli, Grabräuber, empfinden das anders; sie fühlen sich frei, die Vergangenheit zu zerstören und stückweise zu verkaufen. Sich ein Artefakt anzueignen, es zu zerstören, ihm seine Geschichte zu nehmen und es nur als Ware zu betrachten, die einen wirtschaftlichen Wert hat, ist etwas, das in unserer Gegenwart eine große Relevanz hat.

Welche Rolle spielt das Kino dabei? Es ist ein Film über Ausgrabungen, aber auch über die Archäologie des Kinos selbst. Sie verwenden verschiedene Formate und spielen mit Versatzstücken, etwa des Stummfilms.

Als ich mit meiner Kamera­frau Hélène Louvart darüber nachdachte, wie wir einen Film drehen, der von Archäologie erzählt, beschlossen wir, auch mit der Filmgeschichte zu spielen, der Archäologie des Kinos, des Mediums Film im ganz materiellen Sinne. Die verschiedenen Formate, die uns jene Geschichten beschert haben, die wir lieben, vom 35-mm-Film für das Fresko einer Epoche über Super-16 der Nouvelle Vague, das uns Beweglichkeit und eine sehr direkte Art des Erzählens beschert hat, bis hin zum Amateurformat des 16-mm-Films: All dies zu nutzen und auch einige Tricks des frühen Kinos anzuwenden, mal mit mehr Bildern zu drehen, mal mit weniger, ein kleines Segment sogar in einer Art Stop-Motion, war definitiv eine Hommage an die Geschichte des Kinos.

Inwiefern sehen Sie für sich eine Verbindung zwischen Ausgrabungen und Filmemachen?

Auf eine Art hat mich die Vergangenheit immer interessiert, ich habe altgriechische und lateinische Literatur studiert. Für mich ist der Kern der Archäologie, die Vergänglichkeit der Dinge zu sehen, und zu verstehen, dass auch die Ära, in der man selbst lebt, ihr Ende haben wird. Ich arbeite oft wie eine Archäologin, finde Spuren und fange an zu graben und muss dann all diese Funde zusammensetzen. Dieser Film ist selbst ein bisschen wie eine archäologische Ausgrabung, weil man am Anfang wenig versteht. Man sieht Versatzstücke, die sich erst langsam zusammensetzen. 

In der Hauptrolle des Anführers dieser Grabräuberbande haben Sie den Briten Josh O’Connor besetzt. Wie kam es dazu?

Ich hatte von Anfang an einen Ausländer für diese Figur im Kopf, weil alle anderen Männer der Truppe aus dieser Gegend stammen und dort sehr verwurzelt sind. Als deren Anführer wollte ich einen Fremden, um so eine zweite Perspektive zu bekommen. Zugleich ist es eine Hommage an die Grand Tour, als Adlige und Menschen des gehobenen Bürgertums aus Nordeuropa auf Bildungsreise nach Italien kamen und der lokalen Bevölkerung erst vor Augen führten, welche kulturellen Reichtümer sie besaßen. Ich wollte, dass er ein Engländer ist, und ich habe zunächst nach einem deutlich älteren Schauspieler gesucht, weil ich mir einen Protagonisten im Herbst seines Lebens vorstellte, der über seine Existenz nachdenkt. Und dann schrieb mir Josh O’Connor, weil er »Glücklich wie Lazzaro« gesehen hatte. Wir trafen uns und ich sah gleich eine Sehnsucht und Zärtlichkeit, die mich einnahmen. Auch seine Jugend erschien mir als etwas sehr Wertvolles für diese Geschichte. Er ist jung, aber er hat etwas Antikes an sich. Also schrieb ich das Drehbuch auf ihn um und so wurde die Figur des Arthur viel wütender als zuvor. 

»La chimera« ist der Abschluss einer zwanglosen Trilogie über das ländliche Leben in Italien, zu der »Land der Wunder« (2014) und »Glücklich wie Lazzaro« (2018) gehören. Auf eine Art wirkt Arthur wie das Gegenstück zu Lazzaro, dem weltfremd wirkenden Landarbeiter in Ihrem vorherigen Film.

In gewisser Weise gibt es eine Verbindung zwischen den beiden, sie sind beide Opfer eines Zaubers, aber Lazzaros Zauber bewahrt ihn vor dem Hässlichen und lässt ihn immer das Schöne in den Dingen sehen, während Arthurs Zauber einer des Schmerzes, des Verlustes ist. Und deshalb ist es ein Zauber, der ihn in die Dunkelheit und nicht ins Licht tauchen lässt.

Ihre Filme zeigen eine Art märchenhaftes Italien, das etwa an die frühen Filme der Gebrüder Taviani erinnert. Ist dies die Vorstellung des Landes, die Sie als Kind hatten – ein untergegangenes Italien, das Sie durch Ihre Filme zum Leben erwecken wollen?

Es ist das Italien, in dem ich aufgewachsen bin und in dem ich noch heute lebe, das Italien der Provinz. Die meisten italienischen Filme der letzten Jahrzehnte spielen in Städten. Jetzt gibt es eine neue Generation von Regisseuren, die auch vom Land kommen und ihre Geschichten dort ansiedeln. Mittlerweile ist die große Unterteilung nicht mehr zwischen Norden und Süden, sondern zwischen Provinz und Metropole. Was in Dörfern und Kleinstädten passiert, hat ein ganz anderes Tempo als das, was in großen Städten passiert. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der das Sichtbare und das Unsichtbare stark verbunden sind, in der sich das Schicksal auf sichtbare und unsichtbare Weise erfüllt. Das hat auch meine Identität geformt. Und es unterscheidet sich sehr von der amerikanischen Vorstellung, dass wir Herren unseres eigenen Schicksals sind. Hier bestimmen wir nicht selbst über unser Schicksal, sondern müssen die Zeichen entziffern, die uns auf viele Arten warnen können. Aber was erfüllt werden muss, wird erfüllt. Mir gefiel an Märchen immer, dass man das Ende vorhersehen kann. Während alle ständig »Nicht spoilern!«  rufen, als ob die Handlung das Wichtigste eines Films wäre. Dabei ist sie nur ein Element unter vielen. Im Märchen weiß man immer, wie es ausgeht, aber der Genuss, ein Märchen zu hören, wird nicht dadurch getrübt, dass man das Ende schon kennt.

Was ist das Besondere an der etruskischen Kultur? 

Für mich ist es die naheliegendste. Unter meinem Haus befinden sich etruskische Höhlen. Es ist eine gänzlich andere Kultur als etwa die römische. Die Römer haben Monumente gebaut, die sie überdauern sollten, das Kolosseum, die großen Städte, die großen Denkmäler für die Lebenden und künftige Generationen. Im Gegensatz dazu haben die Etrusker, wie es scheint, hauptsächlich für die Toten gebaut. Fast alles, was wir über dieses Volk wissen, stammt von den Objekten, Zeichnungen und Spuren, die sie für die Toten hinterlassen haben. Diese Kultur existiert buchstäblich unter meinen Füßen. Schon als Kind war mir bewusst, dass ich an einen Ort gehe, der von einer anderen Zivilisation bewohnt war und von anderen Zivilisationen bewohnt sein wird. Was andere hinterlassen haben, beeinflusst mein Leben so sehr, dass ich mich verpflichtet fühle, darüber nachzudenken, was ich hinterlassen werde, was wir hinterlassen werden. Ich dachte an die Etrusker, weil sie das Volk sind, das direkt mit meinem Wohnort verbunden ist, und auch, weil sie die meisten Schätze versteckt haben. Und so hofft jeder, der zwischen Umbrien, Latium und der Toskana auf der Suche nach Schätzen ist, die er stehlen kann, auf etruskische Wertgegenstände zu stoßen. In meiner Gegend gibt es vermutlich noch immer große Reichtümer zu entdecken.

Durch Überbelichtung und Formatwechsel machen Sie das Bild selbst zum bewussten Gegenstand Ihrer Inszenierung. Warum?

Was ich suchte, war ein Bild, das lebt und lebendig ist. Ich wollte die rein ästhetische Rhetorik des Bildes zerstören. Keine Einstellung wurde gewählt, weil sie »cool« oder »schön« ist, das interessiert mich nicht. Wenn überhaupt, überrascht eine gewisse Schönheit, aber sie wird nicht absichtlich gesucht. Ich denke, das ist sehr wichtig in einer Zeit, in der jüngere Generationen besessen davon sind, die Kontrolle über ihr Image zu haben. Wir haben mit vielen jungen Menschen gearbeitet, die ihr eigenes Gesicht so gut kennen, dass sie immer darauf achten, wie sie gerahmt werden. Natürlich kontrolliere auch ich als Regisseurin bis zu einem gewissen Grad die Bilder, aber auf eine Art und Weise, die immer noch Raum für Dinge lässt, die passieren können. 

In einem Moment steht das Bild buchstäblich Kopf. Auch das Plakat zeigt ein umgedrehtes Bild, wie bei einer Tarotkarte. Was hat es damit auf sich?

Arthur ist jemand, der im engen Kontakt mit der Welt ist, der die Wurzeln der Dinge sieht, der nach diesen Wurzeln sucht. Indem wir das Bild umkehren, nehmen wir Arthurs Perspektive ein. Wir sehen das Gras von unten. Die Suche nach dem Plakatmotiv fiel mir schwer, weil es kein einfach zu erzählender Film ist. Wie soll ich ihn in einer Zeile, einem Bild zusammenfassen? Dann habe ich zufällig gesehen, wie meine Tochter und ihre Freunde sich Tarotkarten legten. Darauf sind einfache Bilder, die doch vielschichtig und interpretierbar sind. Da hatte ich die Eingebung, dass eine Tarotkarte vielleicht das Gefühl des Films am besten ausdrücken könnte. 

»La chimera« endet in einem ehemaligen Bahnhof, der von einer Frauenkommune bewohnt wird. Schlagen Sie damit eine bessere Art des Zusammenlebens vor, eine Art Utopie?

Nun, bei all den Läusen und dem Schmutz – ich weiß nicht. Wenn es eine Utopie ist, dann eine anstrengende. Der Film erzählt von den etruskischen Gegenständen in den Gräbern und den Orten, wem sie gehören, wer sich an sie erinnert. Und ich wollte am Ende einen Ort, der jedem und niemandem gehört. Ein verlassener Ort, an dem Leben wiedergeboren werden kann, als ein kleines Zeichen der Hoffnung in einem Film über so tragische Themen wie den Tod und das Jenseits. Und dann geht es auch ein bisschen darum, eine weibliche Welt zu schaffen. La chimera ist voller Männer, die gezwungen sind, sehr maskulin zu sein, obwohl sie vielleicht gar nicht mehr dazu in der Lage sind. Ich wollte stattdessen von diesen Frauen erzählen, die sich selbst organisieren, die Dinge nicht kaputt machen, sondern sie wieder zum Leben erwecken. 

Auch die Figuren und die Welt, von denen Sie in Ihren Filmen erzählen, scheinen oft ein Leben außerhalb zu haben. Wie gelingt Ihnen diese Kinomagie?

Es ist wahrscheinlich ganz anders als das, was man in der Filmschule lernt, wo man alles über seine Figuren wissen muss. Ich habe großen Respekt vor meinen Figuren, die wie Geister aus anderen Geschichten sind, ich will gar nicht alles über sie wissen. Ich sehe mich eher wie jemand, der im Meer ein Netz auswirft und dann fange ich einen Fisch, den ich eine Weile betrachte und bevor er stirbt, werfe ich ihn zurück ins Wasser. Ich erhasche nur einen Augenblick, aber dieser Fisch hat Dinge gesehen, die du dir nicht vorstellen kannst, und er wird andere Dinge tun, nachdem er wieder weg ist. Und ein »richtiger« Film ist für mich einer, der dir eine andere Perspektive gibt, der dir deinen eigenen Blick fremd erscheinen lässt.

Wie haben Sie im Laufe der Jahre die Freiheit gefunden, Ihre autarke Art von Filmen nach ganz eigenen Regeln zu machen?

Zunächst einmal lebe ich auf dem Land, in einem kleinen Ort, wo sich niemand für meine Arbeit interessiert. Ich werde dort immer mitleidig angeschaut, als die arme Person, die versucht, Filme zu machen. Sie verstehen nicht, warum ich nicht genug Geld verdiene – ich lebe in einem alten, sehr kaputten Haus ohne Heizung. Sie fragen mich, warum ich nicht mal einen richtigen Film mache. Damit meinen sie das amerikanische Kino, in das man eintaucht, in dem man für einen Moment alles um sich vergisst, auch das eigene Selbst, den eigenen Körper und Geist. Wenn sie meine Filme sehen, sind sie verärgert. Ein paar von ihnen spielten in »La chimera« mit und begleiteten mich nach Cannes zur Weltpremiere. Danach sagten sie mir: »Wir hatten wirklich gehofft, dass du diesmal einen richtigen Film gedreht hast«, und sind enttäuscht, dass es mir wieder nicht gelungen ist. Sie sehen mich als hoffnungslosen Fall. Mein Umfeld hilft mir also keineswegs, selbstsicherer zu werden. Ich bin voller Zweifel, jeden Tag, und jeder Film ist wie der erste.

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