Nahaufnahme von Noémie Merlant
Noémie Merlant (Mitte) in »Balconettes« (2024). © Progress Filmverleih, Nord-Ouest Films, France 2 Cinéma
Noemié Merlant zieht die Blicke auf sich und schleudert sie mit roher Kraft zurück. In ihren stärksten Rollen ist sie ebenso zart wie widerständig – als Regisseurin entwickelt sie ihre eigene Perspektive auf Dinge, die ihr wichtig sind
»Wenn Sie mich ansehen, wen sehe ich dann an?«, fragt Héloïse (Adèle Haenel) in »Porträt einer jungen Frau in Flammen« kokett Malerin Marianne (Noémie Merlant), der sie Modell sitzen muss. Die lesbische Liebesgeschichte, Ende des 18. Jahrhunderts an einem von rauer See umtosten Ort angesiedelt, war für die Hauptdarstellerinnen und die Regisseurin 2019 ein riesiger Erfolg. Noémie Merlant leiht uns darin als Malerin ihre Perspektive, zunächst auf ein zu malendes Objekt, dann die einer Liebenden. Merlants Blick ist in diesem wie in all ihren Filmen ihr Markenzeichen: immer durchdringend, stets eine Spur unbeirrbar und manchmal mit dem Hauch eines kaum wahrnehmbaren Schielens.
1988 geboren und als Tochter zweier Immobilienmakler in Nantes aufgewachsen, führte ihr Weg zunächst über den Laufsteg. Über ihre Zeit als Model sagte sie in einem Interview mit »Eye For Film« 2020, sie habe es genossen, an exotische Orte zu reisen, und es sei eine einfache Art gewesen, Geld zu verdienen. »Ich mochte es aber nicht, als Objekt wahrgenommen zu werden.« Mit ihren Modejobs finanzierte sie ihren Schauspielunterricht an der Cours Florent in Paris, die auch schon Isabelle Adjani, Daniel Auteil oder Sophie Marceau besucht haben. Auf Merlant als Darstellerin wurde die Branche erstmals 2016 aufmerksam. In »Der Himmel wird warten« (2016) spielt sie eine 17-Jährige, die sich islamistisch radikalisiert hat und fast als Selbstmordattentäterin nach Syrien reist. Weil das misslingt, bleibt sie als religiöse Fundamentalistin zurück und treibt, beständig den Koran auf Arabisch rezitierend, ihre Eltern in den Wahnsinn, ohne Nähe oder Zweifel zuzulassen. Merlant gelingt es, diesen Starrsinn nach und nach abzuschälen und die Verletzlichkeit eines jungen Menschen freizulegen, der nicht weiß, wohin mit sich und seinem Leben. Dafür erhielt sie ihre erste César-Nominierung als vielversprechendste Nachwuchsschauspielerin.
Diese Stärke offenbart sich nicht in all ihren Filmen auf den ersten Blick, in »Curiosa« (2019) dauert die Umkehrung vom Objekt der Begierde zum handelnden Subjekt. Merlant verkörpert die französische Poetin und Schriftstellerin Marie de Régnier. Das Fin-de-siècle-Biopic wirkt zunächst stereotyp: Unglücklich verheiratete Frau liebt bindungsunwilligen Mann, zerbricht an der Liebe zu ihm und den Konventionen. Zunächst wird diese Marie wie für Zeit und bürgerliche Klasse üblich ohne ihr Einverständnis an einen älteren Mann verheiratet. Dabei liebt sie nur den Dichter Pierre (Niels Schneider). Der ist ein Casanova durch und durch, Marie zunächst nur eine von vielen Eroberungen, die ihm als Aktmodell und Affäre dient. Im Verlauf der Handlung gelingt es Marie aber, dass sich die Dinge zu ihren Gunsten wenden. Ganz ohne Intrigen oder taktische Manöver, nur durch den Glauben an sich selbst und innere Stärke. Merlant passt perfekt in diese Figur, vordergründig distanziert und mit bürgerlicher Noblesse den Schein wahrend, hinter verschlossenen Türen aber freizügig und frivol ihre Fantasien auslebend. Am Ende akzeptiert ihr Ehemann die Affäre und zieht das Kind eines anderen groß, Pierre selbst muss aus Anstandsgründen Maries Schwester heiraten, so dass diese und Marie jederzeit, manchmal gemeinsam, sexuell über ihn verfügen können. Während Pierre sein Augenlicht verliert (ein Schelm könnte meinen, der male gaze des Films erblinde damit), veröffentlicht Marie ihren ersten erfolgreichen Roman unter einem Pseudonym. In der letzten Einstellung stolziert sie hochzufrieden in einem furiosen Kleid eine Allee entlang.
Neben ihrem markanten Blick ist ihre Körperlichkeit bemerkenswert. Sie wirkt auch nackt nie gezwungen, aufgesetzt oder exponiert, sondern völlig eins mit sich und ihrer Erscheinung. Merlant genießt das Spiel der Rollenumkehr und der erotischen Grenzüberschreitung. Sei es frontal wie in »Curiosa« oder der Neuauflage von »Emmanuelle«, oder wenn sie sich erotisch zu einem Fahrgeschäft auf einem Vergnügungspark hingezogen fühlt (»Jumbo«, 2020).
Eine ihrer stärksten Leistungen ist »Frieden, Liebe und Death Metal« von Isaki Lacuesta. Als Céline überlebt sie mit ihrem Freund Ramón nur knapp die Anschläge auf das Pariser Bataclan 2015 und muss versuchen, mit dem Erlebten zurechtzukommen. Zusätzlich springt die Handlung immer wieder in die Zeit vor dem Massaker. So erleben wir sowohl die unbeschwerte Céline als auch die verwundete, traumatisierte, die darum kämpft, alles hinter sich zu lassen. Ihr Partner Ramón jedoch kommt nicht zurecht und leidet unter Panikattacken. Céline versucht, für sich und Ramón stark zu sein, ihn aufzufangen und selbst zu einer Normalität zurückzufinden, die es so nie wieder geben kann. Diese emotionale Ausnahmesituation gibt Merlant Raum, ganz unterschiedliche Facetten ihres Könnens zu zeigen. Als sich Céline am Ende als ganz und gar unzuverlässige Erzählerin entpuppt und der Film die Interpretation nahelegt, Ramón sei bei den Anschlägen gestorben, wird ihre darstellerische Leistung noch ergreifender.
Parallel zur Schauspielerei legte Merlant nach zwei Kurzfilmen 2021 ihr Regiedebüt »Mi iubita, mon amour« vor. Ein von ihr selbst produzierter Indiefilm, der mit kleiner Crew und minimalem Budget auskommt und von einem flirrenden Sommer in Rumänien erzählt. Ihr zweiter Film »Balconettes« spielt ebenfalls während eines heißen Sommers, diesmal in Marseilles. Ein bisschen hat das was von Almodóvars »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs«, mit einer kleinen Tarantino-Reminiszenz hier, jeder Menge Blut und lynchesken Momenten dort. Ganz eigen macht die bitterböse Rape-Revenge-Komödie aber der dezidiert weibliche und radikalfeministische Blick, mit dem er inszeniert ist. Das Drehbuch hat Merlant gemeinsam mit Céline Sciamma geschrieben, sie selbst übernimmt eine der drei Hauptrollen, in den ersten Szenen als platinblondes Marylin-Double. Lucas Bravo, bekannt als sexy Koch Gabriel aus »Emily in Paris«, besetzt sie hier als fiesen Typen, der die meiste Zeit über eine innerlich wie äußerlich recht unappetitliche Leiche abgibt. In »Balconettes« werden Themen wie Abtreibung, häusliche Gewalt, Sexarbeit und Vergewaltigung verhandelt, der Film ist bitterböse, aber auch brutal witzig. Damit hat sich Merlant endgültig vom Objekt zum Subjekt gewandelt. Mit aller Zartheit und Härte lenkt sie den Blick auf Dinge, die ihr wichtig sind.
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