Interview: Lukas Dhont über »Close«

»Close« (2022). © Pandora Film

»Close« (2022). © Pandora Film

Monsieur Dhont, schon in den ersten Szenen Ihres Film sieht der Zuschauer, wie eng die Freundschaft der beiden Jungs ist – nicht nur die Mädchen und Jungen in ihrer neuen Klasse wollen willen: ist da noch mehr? Müssen Sie als Autor und Regisseur genau wissen, was der Charakter dieser Freundschaft ist, um diese Geschichte erzählen zu können?

Um Ihre Frage beantworten zu können, muss ich auch zu den Ursprüngen dieses Films zurückgehen. Ich stieß auf die Studie einer amerikanischen Psychologin, die für ihr Buch »Deep Secrets« 150 Jungs im Alter zwischen 13 und 18 interviewte. Im Alter von 13 Jahren bat sie sie, von ihren männlichen Freunden zu erzählen. Diese Erzählungen hörten sich an wie Liebesgeschichten: sie sind die wichtigsten Menschen in ihrem Leben, sie teilen alles mit ihnen, benutzen dabei auch das Wort Liebe. Mit 16, 17, 18 Jahren stellt sie den Jungs dieselben Fragen. Da zeigt sich die Tendenz, dass sie die Beziehung nicht mehr mit demselben emotionalen Vokabular beschreiben, der Begriff Liebe wird definitiv nicht benutzt, alles Emotionale wird dem Weiblichen zugeschrieben und als schwul eingestuft.

Entsprach das Ihren eigenen Erfahrungen?

In der Studie wurden afroamerikanische Jungen befragt, das ist nicht meine Identität, ich war ein schwuler Junge, der in der flämischen Provinz aufwuchs. Aber ich hatte dasselbe Gefühl: als ich in die Pubertät kam, beendete ich die Nähe zu einem anderen Jungen, weil ich konditioniert war, das als etwas Sexuelles anzusehen. Das Schöne an der Beziehung zwischen Léo und Rémi ist, dass sie noch ohne Bezeichnungen auskommt. Das war für mich der Kern.

Die beiden Darsteller der Jungen sind außerordentlich – den Hauptdarsteller haben Sie bei einer Zugreise entdeckt?

Das stimmt. Das war in einem Zug von Antwerpen nach Gent, ich hörte Musik und sah in der Nähe diesen Jungen, der sich mit seinen Freunden unterhielt. Die Musik lief in meinem Kopf, so wurden Bilder sehr schnell zu einem Film. Ein junger Mensch, der in der Lage ist, sich so klar auszudrücken, das inspirierte mich, denn wir machen Filme über Charaktere und deren innere Mechanismen. Also braucht man junge Menschen, die fähig sind durch ihre Gesichter auszudrücken, was in ihrem Inneren vorgeht. Das war bei meinem ersten Film »Girl« so und genauso hier. Während der Sommerferien organisierten wir ganztägige Castings, bei denen wir mit den Jungs arbeiteten wie mit einer Theaterklasse. Er kam am selben Tag, an dem auch Gustav seinen ersten Tag hatte und sie zogen sich an wie Magneten, auch halfen sie einander, so sahen wir sofort die Möglichkeit einer Verbindung, einer Zusammenarbeit und vielleicht einer Freundschaft. Für einen Film, in dem die Chemie der beiden Jungen so essentiell ist, war das sehr wichtig.

Konnten Sie chronologisch drehen oder mussten Sie zwischen Szenen der Intimität und solchen der Konfrontation zwischen den beiden Jungen wechseln?

Für einen chronologischen Dreh hatten wir nicht das notwendige Budget, aber das ist auch nicht etwas, was ich zwingend brauche. Wenn wir eine Szene drehen, versuchen wir, sie in verschiedenen Farben zu drehen, verschiedenen Stimmungen. Nach meinem ersten Film weiß ich, dass eine gedrehte Szene beim Schnitt möglicherweise den Platz wechseln wird und sich damit ihre Tonalität verändern kann. Deshalb versuche ich beim Drehen immer, eine Szene in verschiedensten Tonalitäten zu filmen. Entsprechend brauche ich beim Dreh nicht unbedingt eine kausale Beziehung zu der Szene davor. So sage ich vor dem Dreh einer Szene etwa, »stell Dir vor, er hat Dir gerade einen unglaublichen Witz erzählt«, dann »stell Dir vor, er hat gerade etwas gesagt, was Dir weh tut«. Manchmal funktioniert die eine Szene beim Dreh besser als die andere, trotzdem kann man später im Schneideraum vielleicht feststellen, dass die andere besser passt.

Bevor Sie Filmregisseur wurden, erwogen Sie eine Karriere als Tänzer. Inwiefern beeinflusst das Ihre jetzige Arbeit?

Ich hatte schon immer eine große Leidenschaft für den Tanz. Als eine Möglichkeit sich auszudrücken hat mich das sehr bewegt und inspiriert. Als ich meine Praktika an der Filmschule machte, habe ich weniger mit Regisseuren als mit Choreografen gearbeitet. So bin ich der Welt des Tanzes stets nahe geblieben, auch viele der Darsteller, mit denen ich arbeite, sind Tänzer. In meinen Drehbüchern gibt es viele Bewegungen, ich schreibe nur selten ausgefeilte Dialoge. Es ist einfach jene Art von filmischer Sprache, die ich gerne weiter erforschen möchte: die Bewegung und verschiedene Formen des Blickes eher als der Sprache. Deswegen sprechen wir am Set viel über Bewegungen und ich gebe den Darstellern viel Raum für ihre Bewegungen.

»Girl«, Ihr erster Langfilm endete mit einem Moment des Schocks, in »Close« gibt es einen Schock in der Mitte des Films: Ist das etwas, was von Anfang an die Konstruktion des Drehbuches bestimmt? Entwickeln Sie das Drehbuch um bestimmte Momente herum oder aber ergibt sich das erst beim Schreiben?

Das sind erzählerische Elemente, die erst während des Schreibens entstehen, am Anfang stehen eher bestimmte Bilder, hier das Bild von zwei Jungen, die durch ein Feld rennen und das Bild eines Jungen in einem Eishockeyoutfit, dessen Gesicht von einem Helm verdeckt wird. Das andere ist, dass es mir wichtig ist, über Gewalt zu sprechen in einer Welt, die höchst gewalttätig ist. Diese Gewalt sollten wir nicht ignorieren, aber ich möchte sie nicht zeigen, ich möchte diese gewalttätigen Bilder nicht kopieren. Deshalb suche ich nach Möglichkeiten, über die Auswirkungen von Gewalt zu sprechen statt über die Gewalt selber. Als wir mit dem Schreiben von »Close« begannen, standen da zwei Worte, 'Zerbrechlichkeit' und 'Brutalität'. Die Brutalität korrumpiert die Zerbrechlichkeit – daraus ergab sich die Geschichte.

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