Interview mit Anne Fontaine über ihren Film »Marvin«

»Marvin« (2017). © Salzgeber

»Marvin« (2017). © Salzgeber

Anne Fontaine begann ihre Karriere als Tänzerin und Schauspielerin (unter anderem im Kult-Erotikfilm »Zärtliche Cousinen«), doch seit ihrer ersten eigenen Inszenierung in den Neunziger Jahren hat sie sich längst zu einer der erfolgreichsten Regisseurinnen Frankreichs entwickelt. Sie drehte unter anderem »Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft«, »Tage am Strand« mit Naomi Watts und Robin Wright oder »Gemma Bovary«. Nun erzählt sie in »Marvin« (ab 5. Juli in den deutschen Kinos), der letztes Jahr in Venedig den Queer Lion gewann, von einem jungen Schwulen (Finnegan Oldfield), der seine Jugend in der Provinz durchleidet, bevor er es nach Paris schafft, wo er unter anderem Isabelle Huppert (spielt sich selbst) begegnet. Wir trafen Fontaine, die im Juli 59 Jahre alt wird, in Paris zum Interview

Madame Fontaine, ursprünglich hieß es, Ihr neuer Film »Marvin« sei eine Adaption von Édouard Louis' Bestseller »Das Ende von Eddy«, doch nun werden weder Louis noch sein Roman im Abspann des Films auch nur erwähnt. Das müssen Sie bitte erklären...

Gerne! Tatsächlich sprach mich vor ein paar Jahren ein Produzent an und schlug vor, dass ich »Das Ende von Eddy« verfilme. Ich las den Roman umgehend und war beeindruckt von seiner Kraft. Eine Adaption für die Leinwand konnte ich mir sofort vorstellen, hatte allerdings auch gleich das Gefühl, dass man für einen Film gewisse Änderungen würde vornehmen müssen. Einfach weil Louis zwar sehr eindrucksvoll von seiner schwierigen und schmerzvollen Kindheit und Jugend erzählt, aber kaum von der Zeit danach, also der Emanzipation von jenen Jahren. Daraus, dass ich mir allerlei Freiheiten herausnehmen würde, habe ich auch gegenüber Louis also von Anfang an keinen Hehl gemacht.

Und diese Änderungen haben ihm nicht gefallen? Oder warum wird sein Buch nicht als Vorlage des Films erwähnt?

Es war nicht die Frage, ob er den Film mag oder nicht. Außerdem hätte er auch gar keine Einwände erheben können, schließlich hatte er die Rechte am Buch verkauft und somit aus der Hand gegeben. Aber tatsächlich fand Louis nach der Lektüre unseres Drehbuchs, dass wir uns so weit von seiner Geschichte entfernt hätten – nicht zuletzt durch veränderte Namen und Orte – dass er sich darin nicht wirklich wiederfände. Deswegen kamen wir dann überein, »Marvin« nicht als Verfilmung seines Buches zu bezeichnen. Das war sein Wunsch, und ich konnte damit leben.

Also kein böses Blut zwischen Ihnen?

Nein, sicherlich nicht. Ich bin ja ein großer Fan seines Buches, selbst wenn ich der Ansicht war, dass diese sich nicht 1:1 für die Leinwand umsetzen lässt. Und ich eben auch nicht fand, dass ich Louis' ganz persönliche Biografie inklusive der wahren Namen seiner Familienmitglieder übernehmen muss. Das habe ich auch in zahlreichen persönlichen Treffen mit ihm immer ganz offen gesagt, damit es später kein böses Erwachen gibt. Und er hat auch nie Einspruch erhoben oder die Filmrechte zurückgefordert. Von daher ging alles mit rechten Dingen zu und niemand wurde übers Ohr gehauen.

Was war es denn überhaupt, was Sie in dieser Geschichte so sehr ansprach?

Man könnte durchaus sagen, dass ich in dieser Erzählung des Jungen aus der Provinz, der davon träumt seine Herkunft hinter sich zu lassen, auch meinen eigenen Lebensweg wiedererkannt habe. Natürlich nur im Ansatz, schließlich war ich nie ein schwuler junger Mann. Aber einige meiner eigenen Erfahrungen, vom Ankommen in Paris, den dortigen Begegnungen und dem Finden des künstlerischen Weges habe ich ohne Frage ins Drehbuch miteinfließen lassen.

Trotzdem geht es in »Marvin« nicht nur um eine universelle Geschichte über das Erwachsenwerden, sondern natürlich auch um die spezifischen Aspekte etwa eines Coming-Outs. Was interessierte Sie daran, von einem jungen Schwulen zu erzählen?

Ich habe mich immer schon damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, anders zu sein. Eben so wie Marvin, der in einer Familie groß wird, in der er sich fehl am Platz fühlt und darunter natürlich leidet. Ich selbst hatte als junge Frau auch oft das Gefühl, mich von den Menschen um mich herum zu unterscheiden und irgendwie aus der Art zu schlagen. Vielleicht habe ich auch deswegen schon immer eine besondere Nähe zu schwulen Männern gespürt. Und als Filmstoff finde ich ein Aus- und Aufbrechen aus einer erdrückenden Umgebung in eine neue Welt, so wie es Marvin gelingt, ohnehin immer besonders spannend.

Hatten Sie Bedenken, wie es beim Publikum ankommt, dass ausgerechnet eine heterosexuelle Frau diese Geschichte erzählt?

Ich war zumindest gespannt. Und dann sehr stolz, dass ich für »Marvin« letztes Jahr beim Filmfestival in Venedig den Queer Lion gewann, also einen Preis, der von queeren Filmemachern und Kritikern vergeben wird. Davon abgesehen aber ist die Geschichte meines Protagonisten allerdings auch eine, in der sich eben längst nicht nur Homosexuelle wiederfinden können.  

Im deutschen Kino kommt es nur selten vor, dass etablierte Mainstream-Regisseur*innen queere Geschichten erzählen. In Frankreich dagegen sind Sie mit »Marvin« längst keine Ausnahme. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich kenne mich natürlich im deutschen Kino nicht aus, deswegen kann ich dazu nichts sagen. Aber in Frankreich könnte zumindest eine Erklärung sein, dass sowohl die Filmemacher als auch das Publikum seither jeher ein gewisses Interesse und auch eine Offenheit am Thema Sexualität in allen Spielarten haben. Bei Liebe, Erotik und allem anderen Zwischenmenschlichen hat das französische Kino – gerade im Vergleich etwa mit dem amerikanischen – ja eine lange Tradition, eben gerade nicht zu sehr zu vereinfachen, sondern auf Facettenreichtum zu setzen. Trotzdem sind Geschichten wie »Marvin« eben längst noch keine Selbstverständlichkeit, wie ich letztes Jahr wieder gemerkt habe.

Was meinen Sie genau?

Ach, ich wurde anlässlich des Kinostarts von »Marvin« einfach wieder einmal daran erinnert, dass die Großstadt-Blase, in der ich in Paris lebe, nicht automatisch mit dem ganzen Land gleichzusetzen ist. Dort ist eine Coming Out-Geschichte im Kino sicherlich nichts Ungewöhnliches. Aber in der Provinz sieht die Sache eben anders aus. Wir tourten mit dem Film durch viele Kleinstädte – und mehr als einmal kamen danach aufgelöste Männer auf mich zu und sagten: »Dieser Marvin, das bin eigentlich ich.« Das hat mich wirklich sehr berührt.

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