Kritik zu Marvin

© Salzgeber

Anne Fontaine verfilmt nach Édouard Louis' Romanvorlage »Das Ende von Eddy« eine queere Coming-of-Age-Geschichte, in der auch der Klassengegensatz zwischen provinziellem Arbeitermilieu und ­boheme-artigem Pariser Künstler-Milieu nichtzu kurz kommt

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Eigentlich ist es eine von Marvins glücklicheren Erinnerungen. Er hat einen Platz an einem Internat ergattert, in dem er seiner Leidenschaft fürs Theater nachgehen kann. So entkommt er endlich der Enge des nordfranzösischen Dorfes, in das er hineingeboren wurde. Nun ist Schluss mit den Drangsalierungen durch Mitschüler, die ihn als Schwuchtel beschimpfen. Und er muss auch nicht mehr mit ansehen, wie sein Vater halbnackt im Haus herumsitzt und die Mutter demütigt.

Dennoch lässt Marvins Abschied aus der Provinz den Betrachter traurig zurück. Anne Fontaine gelingt in diesem Schlüsselmoment von »Marvin«, ihrer freien Neuinterpretation von Édourd Louis' Roman »Das Ende von Eddy«, eine grandiose Gratwanderung: Einerseits teilt man ­Marvins Erleichterung angesichts einer anderen, vielleicht besseren Zukunft, die ihn in der Ferne erwartet. Andererseits aber fühlt man mit Marvins Vater mit, dem übergewichtigen, unwichtigen Dany (Grégory Gadebois). Er hat es sich nicht nehmen lassen, den Sohn, der ihm immer fremd war, zum Bahnhof zu bringen und bis ins Abteil zu begleiten. Zum Abschied gibt er Marvin einen Umschlag mit Geld und den Rat, sich Schwarzen und Arabern gegenüber vorsichtig zu verhalten. Dann verlässt er den Zug und bleibt ratlos auf dem Bahnsteig stehen, genau hinter seinem Sohn, der mit dem Rücken zum Fenster sitzt und sich nicht einmal umdreht. Stattdessen sieht er nach, wie viel Geld Dany ihm gegeben hat.

Die Kälte und Brutalität, mit der Marvin in diesem Moment einen Schlussstrich zieht, ist verständlich. Aber es gibt auch den Schmerz angesichts von Danys Hilflosigkeit. Man begreift, dass er einfach nicht aus seiner Haut kann. Anne Fontaines Porträt eines jungen Homosexuellen aus der Arbeiterschicht, der sich neu erfindet, ist eben nicht nur eine Umschreibung von Édouard Louis' Erfolgsgeschichte. Sie rehabilitiert zugleich auch dessen Familie, ohne deren Ressentiments zu beschönigen oder zu leugnen. Fontaine bildet die Komplexität menschlicher Emotionen in ihrem eleganten, fortwährend zwischen zwei Zeitebenen hin und her springenden Film ab und lädt das Publikum ein, Widersprüche einfach auszuhalten.

Aus dem jungen Marvin Bijou, dem in jedem Augenblick der Wille, sich nicht brechen zu lassen, anzusehen ist, wird der gut 20-jährige Marvin, der als Martin Clement noch einmal neu anfängt. Finnegan Oldfield spielt den aufstrebenden Schauspieler als verschlossenen jungen Mann. Es ist offensichtlich, dass er jedes Wort, bevor er es ausspricht, mehrfach umdreht, damit er nichts Falsches sagt. Seine Homosexualität ist in Paris kein Makel mehr, aber seine proletarische Herkunft sehr wohl. Deswegen hält er sich an Abel, seinen akademischen Mentor, dem selbst eine ähnliche Neuerfindung seiner Identität geglückt ist, und an Roland, einen reichen, älteren Industriellen. Der von Charles Berling lässig gespielte, hochkultivierte und zugleich extrem herablassende Liebhaber öffnet Marvin genau die Türen, die er selbst nicht öffnen kann. Er bezahlt dem angehenden Schauspieler eine teure Zahnbehandlung – und macht ihn mit ­Isabelle Huppert bekannt, die schließlich in seinem Theaterdebüt, einem von ihm selbst geschriebenen autobiografischen Stück, mit ihm auf der Bühne stehen wird.

Die Enge in der Provinz und die Offenheit der großen Metropole spiegeln sich in Anne Fontaines Bildkompositionen. Es ist wie so oft bei Gegensätzen. Sie liegen so weit aus­einander, dass sie sich auf der anderen Seite begegnen. Insofern ist es nur konsequent, dass Isabelle Huppert, die sich mit einem wunderbaren Gespür für Ironie selbst spielt und damit ihren Mythos, also auch ihre Identität, hinterfragt, in die Rolle der Mutter schlüpft. Sein Leben neu zu schreiben heißt eben nicht, die Vergangenheit auszulöschen, sondern sie in einen anderen Kontext zu setzen. In den vielleicht schönsten Szenen des Films kehrt Marvin als Martin zurück in die Provinz. Nun kann er mit seinen Eltern und seiner Schwester sprechen und sie auch mit ihm. Was sich am Bahnhof nur erahnen ließ, wird Wirklichkeit. Es gibt Wege aus der Sprachlosigkeit, so wie es Wege aus der Identität gibt, in die der Mensch durch den Zufall der Geburt gepresst wird.

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