Kritik zu Wie im echten Leben

© Neue Visionen Filmverleih

Basierend auf dem französischen Sachbuchbesteller der ehemaligen Kriegsreporterin Florence Aubenas handelt dieses Sozialdrama vom »Wallraffen« einer Schriftstellerin – gespielt von Juliette Binoche –, die sich undercover als Putzfrau verdingt

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Florence Aubenas ist eine bekannte Journalistin. 2005 wurde sie im Irak von Islamisten fünf Monate als Geisel gefangen gehalten. 2009 betrat die ehemalige Kriegsreporterin neues Terrain, nahm unbezahlten Urlaub, zog in eine möblierte Bude in Caen und meldete sich arbeitslos. Inkognito übernahm sie Hilfsarbeiterjobs, darunter als Putzfrau auf der Fähre nach England im Küstenort Ouistreham. Ihr Bericht über ihre halbjährige Fron, »Le quai de Ouistreham«, war ein Bestseller. Die Verfilmung, der Aubenas lange nicht zustimmte, kam auf Initiative von Juliette Binoche zustande. Das Ergebnis ist ein Sozialdrama, angesiedelt auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Dokumentation und auf spezielle Weise eindringlich.

Aubenas' Alter Ego heißt Marianne und ist Schriftstellerin. Sie gibt sich als mittellose, verlassene Ehefrau aus, die, kein ungewöhnliches Schicksal, Hausfrau war und für die Firma ihres Mannes die Buchhaltung machte, jedoch keine formelle Qualifikation besitzt. Mariannes wahre Identität enthüllt sich erst, wenn sie abends vor ihrem Laptop sitzt und für ihr geplantes Buch ihre Eindrücke eintippt. Nach ersten Fehlschlägen landet sie in einer Putzkolonne, die im Akkord die Fähre reinigen muss: 230 Kabinen in eineinhalb Stunden. In der gemischten Crew gibt es eine Hierarchie; es wird als selbstverständlich akzeptiert, dass Männer sich weigern, die Toiletten zu säubern. 

Bei diesem »Walraffen« erlebt die Autorin nicht nur die harte körperliche Arbeit, den rüden Ton, den permanenten Zeitdruck. Der Film verdeutlicht die Fallstricke prekärer Lebensumstände, das Hangeln von einem Problem zum nächsten, den mentalen Aufwand, sich in einer labyrinthischen Bürokratie zurechtzufinden. Der Schlüssel, um überhaupt Geld verdienen zu können, sind Energie und Transport; öffentliche Verkehrsmittel gibt es zu Mariannes nachtschlafenden Arbeitszeiten nicht, kein Auto bedeutet keinen Job. Benzinkosten werden sorgfältig geteilt, und bricht das klapprige Gefährt zusammen, bedarf es zuverlässiger Freunde.

Es ist denn auch die verschworene Solidarität unter Kolleginnen, das oft ausgelassene Zusammenglucken, die proletarische Nestwärme, die Marianne, eine Intellektuelle, im tiefsten Inneren anrührt, sie dazu bringt, die Freundschaft der jüngeren Chrystèle zu suchen. Hier bewegt sich der Film in eine interessante neue Richtung. Während Chrystèle die ältere Marianne als exzentrische, aber coole Vertraute adoptiert, versucht Mari­anne das Glücksgefühl ihrer Jugend wiederzufinden, ohne zu begreifen, dass die junge Alleinerzieherin sich Sorglosigkeit nicht leisten kann. Die unterschiedliche Wahrnehmung – hier eine wohlsituierte Bohemienne, die das Putzfrauendasein im Grunde als Abenteuerurlaub ansieht, dort die andere, die keine andere Perspektive als das besinnungslose Schuften hat – wird in kleinen, sprechenden Szenen deutlich gemacht.

Jederzeit hängt über Marianne das Damoklesschwert ihrer Entlarvung. Und wo diese zu romanhaft dramatisiert wird, kommen dennoch fundamentale Fragen des Anstands zum Tragen. Für Chrystèle ist das Ausspionieren ihrer Lebensumstände ein demütigender Verrat, ist doch in ihrem Milieu Solidarität überlebenswichtig. In der Tat erscheint Mariannes proklamiertes – und erfülltes – Ziel, in einem Buch die »Unsichtbaren« als Alltagsheldinnen zu porträtieren, wie als weitere Ausbeutung.

Es hat etwas zu bedeuten, dass der Film methodisch ähnlich inszeniert ist wie die Sozialkomödie »Der Glanz der Unsichtbaren«, in der ein Sachbuch über das Leben obdachloser Frauen weitergesponnen wurde. Auch hier spielen Laiendarstellerinnen ihr eigenes Leben nach, während mit Binoche ein Profi in der Rolle der Autorin im Grunde von oben herab auf sie blickt. Und sich zugleich auf diese besondere weibliche Art mit ihnen identifiziert. Ist Freundschaft über Klassengrenzen hinaus möglich? Das Beste an diesem Film ist die Verstörung, der er hinterlässt.

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