Kritik zu Shanghai, Shimen Road

© Kairos

2010
Original-Titel: 
No. 89 Shimen Road
Filmstart in Deutschland: 
13.03.2014
L: 
85 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Ein nostalgischer Film über das Alter, in dem man von der Zukunft träumt: Das Spielfilmdebüt des chinesischen Dokumentaristen Haolun Shu versucht festzuhalten, was schwindet

Bewertung: 3
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Für Henri Cartier-Bresson bedeutete fotografieren, den Atem anzuhalten und alle Energien des Kopfes, Auges und Herzens im Angesicht der flüchtigen Wirklichkeit zu bündeln. Seine berühmte Maxime des rechten, entscheidenden Augenblicks ist eine wehmütige Grundierung dieses Films, der eine verlorene Gegenwart einholen will. Es scheint, als habe sein Regisseur die Aufsätze des Franzosen nie aus der Hand gelegt, als er das Drehbuch schrieb.

Cartier-Bresson, der noch ein anderes China kannte als das, in welches Haolun Shu achtsam seinen Blick versenkt, ist der Leitstern des 17-jährigen Xiaoli. Seine in Amerika lebende Mutter hat ihm eine Kamera geschenkt, damit er ihr Bilder von sich und ihrer Heimat schickt. Am liebsten allerdings macht er Aufnahmen von seiner Nachbarin Lanmi, die um entscheidende fünf Jahre älter ist als ihr schüchterner Verehrer. Wenn sie miteinander balgen, besitzt das beinahe noch kindliche Unschuld. Ihre Träume vom Anderswo werden sich in diesem Sommer Ende der 80er Jahre jedoch immer weiter entzweien. Auf den hochhackigen Schuhen, die er ihr schenkte, stolziert sie nun zu einem luxuriösen Hotel, wo sie sich für Ausländer prostituiert.

Xiaolis neue Schulkameradin Lili könnte einen anderen Elan in sein Leben bringen. Wie dumpf er bisweilen neben ihr wirkt! Für einen Moment gelingt es ihr, sein Interesse für die Demonstrationen der Pekinger Studenten zu wecken. Der muntere Kuss, den sie ihm dafür schenkt, bleibt folgenlos. Wird der Junge das am Ende mehr bedauern als die vergebliche Sehnsucht, die Lanmi in ihm schürt?

Der Erzählkommentar aus dem Off verrät es nicht. Die Stimme, die Xiaolis Erlebnisse wie aus dem Rückspiegel schildert, verleiht dem Film den Charakter einer altmodischen Chronik. Der Sommer, von dem sie erzählt, ist früh vorüber: An seinem Ende steht das Massaker vom Tian‘anmen-Platz. Die Verknüpfung der großen, übergeordneten Geschichte mit der kleinen, privaten liefe Gefahr, prätentiös zu wirken, wäre der Regisseur nicht ein ebenso zaghaft Tastender wie seine Hauptfigur. Sein Erzählfokus bleibt bescheiden. Voller Sorgfalt beschreibt er den Alltag der Gemeinschaft im Mietshaus in der Shimen Road, das Jahrzehnte später der Brutalsanierung Shanghais zum Opfer fällt.

Xiaolis zweitwichtigster Bezugspunkt in diesem Mikrokosmos ist sein Großvater (die Vätergeneration ist in diesem Film abwesend), der immer noch auf die Rückgabe seiner Gemälde wartet, die während der Kulturrevolution konfisziert wurden. Nun fällt seinem Enkel das Mandat der fotografischen Zeugenschaft zu. Das bleibt ein wenig eine Behauptung, denn die atmosphärische Weisheit der Fotos, die er von seiner untergehenden Welt macht, scheint seinem arglosen, unaufmerksamen Wesen oft unverwandt. Ihre Komposition zeugt von einer Reife, die man ihm noch nicht unterstellen mag. Haolun Shu montiert die Schwarz-Weiß-Bilder zu schönen Passagen des auch biografischen Übergangs. Man wünscht sich, die Kamera würde jeweils ein paar Sekunden länger auf ihnen verweilen: Sie zeigen den entscheidenden, den flüchtigen Augenblick.

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