Kritik zu Seaview

© Freunde der deutschen Kinemathek

2008
Original-Titel: 
Seaview
Filmstart in Deutschland: 
29.01.2009
L: 
82 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Tatendrang statt Larmoyanz: Wie leben Flüchtlinge aus aller Welt in einem ehemaligen irischen Urlaubsparadies?

Bewertung: 4
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Billy Butlin war so etwas wie ein britischer Neckermann. Doch seine wie eine Kreuzung aus Disneyland, sozialistischem Ferienlager und Robinson Club kombinierten Massenurlaubsanlagen für die britische Arbeiterklasse wären im postfaschistischen Deutschland vermutlich undenkbar gewesen. Eine dieser Butlin'schen Feriensiedlungen wurde 1948 in Mosney bei Dublin eröffnet: Ein Urlaubsparadies am Meer mit beheiztem Pool, Fish & Chips-Verkaufsstelle und großem Ballsaal. Heute reisen britische Familien wohl lieber nach Kenia und Jamaica. Und in Mosney leben Familien aus Nigeria, Bosnien, Iran oder Südafrika, die in Irland politisches Asyl beantragt haben. Pool und Pommesbude sind geschlossen, das Essen kommt aus der Großkantine. Und statt Animateuren gibt es Sozialarbeiter.

Eigentlich wollten die Filmemacher Paul Rowley und Nicky Gogan einen Spielfilm über Asylsuchende drehen, als sie bei ihren Recherchen auf Mosney stießen, »diesen riesigen surrealen Warteraum voller Menschen mit unterschiedlichen Hoffnungen und Ängsten«, wie sie in einem Text zum Film schreiben. Statt also wie geplant Ideen und Geschichten für ihr Drehbuch zusammenzutragen, begannen die beiden erst mal, mit den Bewohnern des Lagers Musik- und Videoworkshops zu organisieren und für die hauseigene multinational kurdische Rap-Crew einen Clip zu produzieren. Auch »Seaview« selbst ist das Produkt solcher Zusammenarbeit mit den Mosneyanern. Eine Nähe, die in den Gesprächen und Begegnungen zu spüren ist, die statt Mitleid für die schweren Schicksale der Bewohner eher Bewunderung für ihre Energie und den stillgestellten Tatendrang evozieren.

Beklagen wollen die sich nicht. Und es stimmt ja: Der irische Staat sorgt nicht schlecht für seine Asylanten. Doch wie bei uns ist es auch ihnen nicht erlaubt, zu arbeiten. Das ist mehr als ein Handicap: Denn wer nicht arbeiten darf, kann auch sein Leben nicht in die eigene Hand nehmen. So wird Abhängigkeit konserviert. Denn im Unterschied zu den Urlaubern bleiben die Flüchtlinge nicht nur für ein paar Urlaubswochen in Mosney, sondern oft viele Jahre, bis ihre Anträge endlich entschieden werden. Eine grausam lange Zeit des Nichtstuns, die nicht ohne Folgen bleiben wird: Wie wird das auf die Kinder (und es gibt viele in Mosney) wirken, wenn ihre Eltern den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und nicht einmal die Mahlzeiten selbst kochen, bringt es eine aus Nigeria geflohene junge Mutter auf den Punkt.

Außer einem Hausmeister, der herumführt, sind die Asylbewerber Sprecher und höchst lebendige Akteure des Filmes. Diese Unmittelbarkeit lässt gerne über manch kleine ästhetische Irritation hinwegsehen, für die die aus dem Kunstbereich kommenden Filmemacher vermutlich allein verantwortlich sind: ein manchmal allzu aufdringliches Sounddesign, effekthascherische Kameraeffekte. Aber das sind Petitessen bei einem in der Substanz gelungenen und wichtigen Film.

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