Kritik zu Roter Drache

© Universal Pictures

Ein Wiedersehen mit Hannibal Lecter

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Der Trend in Hollywood geht ganz klar zum Prequel, also zur »Vorgeschichte«. Seltsam wird es, wenn das Prequel zugleich das Remake eines Films – von Michael Mann – ist, an dem es eigentlich nicht viel zu mäkeln gab. Kann das gut gehen? Es kann. Weil »Roter Drache« sich nicht nur auf das Markenzeichen Anthony Hopkins verlässt, sondern mit Ralph Fiennes einen wirkungsvollen neuen Schurken gefunden hat.

Das von H. R. Giger entworfene Alien und der von Thomas Harris erdachte Psychiater Hannibal Lecter haben sich tief ins Bewusstsein der Populärkultur eingeschrieben. Das Faszinierende der beiden Kinomonster ist auf merkwürdige Weise verknüpft mit ihrer Beweglichkeit. Das Alien greift als hochmobile Bio-Maschine an, die selbst von Stahltüren bestenfalls gebremst werden kann. Lecter hingegen speist seine unheimliche Macht aus der körperlichen Immobilität. Durch bloßes Flüstern verführte er im »Schweigen der Lämmer« seinen Zellennachbarn zum Suizid. Bewegungsunfähig, reduziert auf einen begehrlichen Blick, fixiert er einen Füllfederhalter – und hält ihn wenig später in Händen. Monströser Körper, monströser Geist: Augenfällig werden solche Muster erst, wenn sie nicht mehr funktionieren. Als das Alien im vierten Teil der Saga zum eingesperrten, von Wissenschaftlern gebändigten Tier verkam, war seine Magie verflogen. Ähnliches widerfuhr Lecter in »Hannibal«: Auf freiem Fuß blieb wenig mehr von ihm als ein exzentrischer älterer Herr mit kannibalistischen Vorlieben.

Was lag näher, als Thomas Harris' Roman »Roter Drache«, in dem Lecter die meiste Zeit hinter Gittern sitzt, noch einmal für die Leinwand aufzubereiten, diesmal mit Anthony Hopkins? Bis auf einen neuen Prolog, der Lecters Vorgeschichte zeigt, und ein Ende, das sich enger an die Buchvorlage hält, folgt die Neuverfilmung weitgehend der Story, die auch Michael Manns »Manhunter« von 1986 erzählt. Obwohl mit Dante Spinotti derselbe Kameramann für die Bilder verantwortlich zeichnet, hat das Ergebnis mit dem unterkühlten Neon-Chic der ersten Verfilmung wenig gemein. Spinotti konzentriert sich von Beginn an auf die Gesichter eines großartigen Ensembles. Regisseur Brett Ratner inszeniert zudem mit einem Understatement, das das grandios-groteske Fiasko von »Hannibal« vergessen macht. Nie setzt er, wie Ridley Scott, auf spekulative Schocks, und nie entgleiten ihm die Figuren – erstaunlich für einen Regisseur, der bisher mit Popcornkino wie »Rush Hour« 1 & 2 reüssierte.

Ein Täter, der in Vollmondnächten ganze Familien auslöscht und seinen Opfern Spiegelscherben in die Augenhöhlen drückt; ein symbolistisches Aquarell von William Blake (das der Geschichte ihren Titel gab); merkwürdige Zahnabdrücke; ein chinesisches Symbol, geritzt in einen Baum – das Drehbuch folgt fasziniert Assoziationsspielen der Psychoanalyse und mündet in ein Panorama ganz handfester Kindheitstraumata, Kastrationskomplex inklusive. Das wirkt psychologisch holzschnittartig und ist alles andere als neu, gehört aber vielleicht zu den Ur-Erzählungen menschlicher Existenz. Die Mördersuche als verrätseltes Zeichenlabyrinth, vermengt mit grausigen psychopathologischen Details: das wiederum kennt man seit Dario Argentos »Giallo«-Thrillern der siebziger Jahre. Es bleibt nicht bei einem Déjà-vu-Erlebnis: Wenn der FBI-Ermittler Will Graham (Edward Norton) Dr. Lecter in seiner Zelle besucht, kommt es zu einer verblüffenden, ja unheimlichen Verdoppelung. Mit denselben Figuren und Schauspielern (Anthony Heald als Dr. Chilton, Frankie Faison als Wärter) und in der gleichen Kulisse wiederholt der Film fast einstellungsgetreu Clarice Starlings erste Begegnung mit Lecter. Edward Norton in Jodie Fosters Rolle: ein beinahe komischer Verfremdungseffekt.

Auch die Geschichte klingt seltsam vertraut: Nach Lecters Verhaftung hat der seelisch angeschlagene Graham den Dienst quittiert. Auf Drängen des FBI-Chefermittlers Crawford (Harvey Keitel) befasst er sich mit einem neuen Fall, einem Serienmörder, der in Polizeikreisen »die Zahnfee« genannt wird. Graham ist ein »Profiler«: Er nutzt Intuition und wissenschaftliche Methodik, um sich ein Bild des Täters zu machen. Wo liegt dessen geheimes Begehren, wenn er mordet? Jäger und Gejagter – so will es die Mythologie des Subgenres – müssen sich ähneln. Im Geiste begeht Graham die Taten der »Zahnfee« noch einmal, indem er sie rekonstruiert. Um die Witterung aufzunehmen bittet er Lecter um Rat, nicht ahnend, dass Lecter längst in Kontakt mit der »Zahnfee« steht.

Trotz der bekannten Bilder und Momente ist »Roter Drache« ein großartiger Film geworden – und ein Lehrstück darüber, wie sich das forensische und psychologische Puzzlespiel des Thrillers in die Bild- und Gefühlswelten des Horrorfilms übersetzt. Das liegt vor allem an der »Zahnfee«. Während Grahams Spurensuche lernen wir den Täter, Francis Dolarhyde, kennen – ein gehemmter Mann mit Hasenscharte, der durch seine Taten hofft, sich in ein machtvolles, gottähnliches Wesen, den »Roten Drachen«, zu verwandeln. Ralph Fiennes spielt Dolarhyde als tragischen Anti-Helden, als Außenseiter, der nicht nur Schrecken verbreitet, sondern auch Sympathie weckt, ganz in der Tradition von Frankensteins Monster und King Kong. Er wohnt nicht mehr, wie bei Michael Mann, in einem Einfamilienhaus, sondern im verfallenen, schauerromantischen Landsitz des klassischen Horrorfilms. Seine bizarren Utensilien und die riesige Tätowierung, die sich unter dem Spiel der Rückenmuskeln in ein belebtes Gemälde verwandelt, zeigen ein Außen, das mit dem monströsen Innen restlos verschmolzen ist. Er trägt seine Seele buchstäblich auf der Haut.

Lecter musste eine mysteriöse Black Box bleiben, um weiter als faszinierend-abstoßendes Monster zu funktionieren. Über seine Motive und den Weg, der ihn zu dem gemacht hat, was er ist, erfahren wir eigentlich nichts. Dolarhyde aber erhält eine Vergangenheit. Auf ihn herab blickt das altmodische Bildnis einer bösen Großmutter. Ihre Stimme schwebt als untoter Geist durchs Haus, aufgezeichnet in den Möbeln und Wänden und in Dolarhydes Kopf. Am Ende geht ihr Porträt, effektvoll wie in den barocken Poe-Verfilmungen Roger Cormans, in Flammen auf. Dolarhyde ist nicht nur Kinomonster, sondern leidende Kreatur. Die kalte Faszination des FBI-Agenten (und des Zuschauers) wird gebrochen durch den Blick auf eine verkrüppelte Seele.

Dolarhyde ist auch nicht auf der Suche nach neuen Opfern, wie das FBI wähnt, sondern verliebt sich gerade in die blinde Reba (Emily Watson). In der schönsten Szene des Films überrascht er sie mit einem riesigen Tiger, der betäubt auf dem Untersuchungstisch eines Veterinärs liegt. Ängstlich, mit einem Ausdruck kindlicher Neugier, streichelt Reba über das Fell des Tieres und fährt ihm schließlich zwischen die Beine, zaghaft nach seinem Geschlecht tastend. Begehren und Bedrohung, Schönheit und triebhafte Gewalt berühren sich in einem simplen, aber betörenden Bild.

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