Mubi: »Songs My Brothers Taught Me«

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Ohne falsche Romantik

Mit nur drei Filmen hat sich Chloé Zhao als eine der bedeutendsten Regisseurinnen der Gegenwart etabliert. Die letzten Monate waren für die 1982 in Peking geborene, in England und in den Vereinigten Staaten ausgebildete Filmemacherin wohl einzigartig: Ihr Roadmovie »Nomadland« gewann den Goldenen Löwen in Venedig, den People's Choice Award in Toronto und in den Hauptkategorien bester Film und beste Regie bei den Golden Globes. Mit sechs Oscarnominierungen geht ihr Drama um eine von Frances McDormand gespielte Witwe, die in ihrem Van lebt, als ein großer Favorit an den Start.

»Nomadland« fügt sich nahtlos in das Werk der Regisseurin, die den männlich dominierten Western in die Jetztzeit holt und entmystifiziert. Immer berühren sich in ihren Filmen Dokumentarfilm und Fiktion: McDormand ist von zahlreichen Laien umgeben, die sich selbst spielen, in »The Rider«, ihrem zweiten Film, spielte Schauspieldebütant Brady Jandreau quasi eine filmische Version seiner eigenen Geschichte. Es ist ein ganz und gar eigener, sensibler Stil, den Zhao bereits seit ihrem ersten Langfilm »Songs My Brothers Taught Me« verfolgt. Das Debüt feierte in Sundance Premiere, lief in der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes und ist nun bei Mubi zu sehen.

Darin porträtiert Zhao das »Rez Life«, wie es mehrfach im Film heißt, das Leben der Lakota im Pine Ridge Reservat in South Dakota. Im Zentrum stehen Johnny (John Reddy) und seine kleine Schwester Jashaun (Jashaun St. John), die bei der Mutter leben und in einem destruktiven Umfeld groß werden: Viele der Ureinwohner sind alkohol- und drogenkrank, der Vater, der 25 Kinder mit neun Frauen hatte, ist bei einem Hausbrand umgekommen und der ältere Bruder sitzt im Gefängnis. Die Katze beißt sich in den Schwanz, denn Johnny verkauft Alkohol, um die Familie über die Runden zu bringen. Hoffnung sieht er bei seiner Freundin Aurelia (Taysha Fuller), mit der er nach Los Angeles gehen will. 

Dass ausgerechnet die Stadt der Engel ein neues Leben verspricht, passt, denn nicht nur mit ihrem semifiktionalen Ansatz reflektiert die Regisseurin über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion anders: von Realität und Traum. Immer wieder treffen diese Welten in Zhaos Filmen aufeinander. Für Johnny gilt es abzuwägen zwischen Heimat und Neuanfang. Kein Leichtes.

Schon »Songs My Brothers Taught Me« lebt von einer unglaublichen Nähe zu den Menschen – vier Jahre soll die Regisseurin in dem Reservat der Ureinwohner verbracht haben. Die Kamera von Joshua James Richards, Zhaos Stammkameramann und Lebenspartner, holt die Menschen nah ran, fängt mit empathischen Bildern die Gesichter der Laiendarsteller ein und findet emotionale Entsprechungen in der Natur. Horizont, Berge und weite Prärien erzählen eigene Geschichten in Zhaos Filmen, die sich dem poetischen Realismus verschrieben haben, ohne falsch zu romantisieren. Ein Kino im produktiven Dazwischen, das niemals plump politisch ist und doch strotzt vor Gegenwärtigkeit.

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