Kritik zu Die Kinder des Monsieur Mathieu

© Constantin Film

Debütfilm aus Frankreich über die Macht der Musik

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Die elegische Filmmelodie klingt noch eine Zeit lang nach dem Zusammenknüllen des Taschentuchs und dem Verlassen des Kinos in den Ohren. Der Filmsoundtrack ist in Frankreich, wo »Les Choristes«, so der Originaltitel, mittlerweile sechseinhalb Millionen Zuschauer zählt, ebenfalls an die Spitze der Charts gerückt; vor allem aber: die Titelmelodie »La nuit« zählt zu den beliebtesten Handy-Klingeltönen. Schon vor 20 Jahren »machte« die Musik einen französischen Film: Der New-Wave-Krimi »Diva« wurde durch eine Arie aus Alfredo Catalanis Oper »La Wally« erst richtig schick. In »Die Kinder des Monsieur Mathieu« sind es Lieder des Barockkomponisten Jean Philippe Rameau und barockisierende Eigenkompositionen von Debütregisseur Christophe Barratier, einem ausgebildeten Klassikgitarristen, die die Geschichte tragen.

Erzählt wird aus der Rückblende: Der arbeitslose Musiker Clément Mathieu verdingt sich im Jahre 1949 als Hilfslehrer in einem Internat für schwererziehbare Jungs, dessen zynischer Direktor Rachin die Kinder, oft Kriegswaisen oder Söhne lediger Mütter, schon abgeschrieben hat und mit Prügel und Karzer traktiert. Der rundliche, flinke Mathieu ignoriert ihre Aufsässigkeit, wird erst nervös, als sie seine Tasche stehlen und neugierig die Notenblätter betrachten. Und als die Kinder mal wieder außer Rand und Band sind, lässt Mathieu sie nacheinander vorsingen und kanalisiert ihre Energie in einen Chor. Angesichts der Möglichkeit, seine eigenen Kompositionen vertonen zu können, scheint für Mathieu der erzieherische Mehrwert der Gesangsstunden eher unwichtig. Doch bei der Verwirklichung seines Vorhabens macht er instinktiv alles richtig: Je mehr die Kids beim gemeinsamen Singen aufblühen, desto besser wird die Stimmung im Internat.

So nonchalant, wie Barratier die musikalische Disziplinierung als zufälliges Nebenprodukt zeigt, so nachlässig zeichnet er Nebenfiguren wie etwa den Neuzugang Mondain, ein halbwüchsiger Kleinkrimineller und verschlagener Unruhestifter. Doch keiner der Darsteller, noch nicht einmal Pierre, der Sänger mit Engelsgesicht und -stimme, der bald ins Zentrum rückt, ist mehr als eine flüchtige Charakterskizze. Auch nicht der wuselige kleine Mathieu, der gelernt hat, seine Frustrationen tapfer hinunterzuschlucken, und sein Gegenbild Direktor Rachin, der sich, anders als der menschenfreundliche Mathieu, an der ganzen Welt rächen will für seine gescheiterten Ambitionen. Gérard Jugnots Darstellung des bescheidenen Mathieus ähnelt dem realen Lehrer in Nicolas Philiberts Schuldokumentarfilm »Sein und Haben«; in beiden Filmen ist überdies viel Kindheitsnostalgie zu spüren. Auch bei Barratier schimmert bei aller Bedrohlichkeit der Besserungsanstalt eine gewisse durchsonnte Wehmut nach der Nachkriegszeit mit Papa de Gaulle durch. Hätte er die Geschichte ins Heute verlegt, so Barratier, so hätte er »Themen aufgreifen müssen wie sozialer Wohnungsbau, Integration« und anderes. Interessant ist deshalb der Vergleich mit dem Dokumentarfilm »Rhythm is it!«, in dem sozial schwache Berliner Schüler einen Ausdruckstanz zu Strawinskys »Le sacre du printemps« einstudieren: unaufhörlich erinnern Off-Stimmen an das schlechte Milieu der Kinder, der Tanzpädagoge müht sich wortreich, ihnen Konzentration und Disziplin beizubringen.

Barratier, dessen Choristes ein Remake von Jean Drévilles »Der Nachtigallenkäfig« aus dem Jahre 1945 ist, lässt zwar das Happy End des Originals ein paar Nummern kleiner ausfallen, streift in seinem unprätentiösen Film aber unangenehme Dinge ebenso ab wie den pädagogischen Apparat. Stattdessen lässt er bisher noch größtenteils ungehörte Lieder sprechen, deren lyrische Metaphern für Ferne, Frühling und Freiheit die Kinder in eine imaginäre glücklichere Welt entführen. Auch der Zuschauer berauscht sich an den Knabenstimmen wie an einem verzaubernden Gesang, der irdische Probleme mit sich fortträgt. Barratiers Naivität mag befremden, aber seine Mission – die Vermittlung musikalischer Sinnenfreude als Antidot gegen reale Missstände – erfüllt dieser kleine Film perfekt.

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