Kritik zu Der Meister und Margarita
Michael Lockshin, in den USA geborener Regisseur mit russisch-amerikanischen Wurzeln, hat Michail Bulgakows Roman adaptiert. Seine als Parabel über intellektuelle Feigheit lesbare Version wurde in Russland 2024 zum Publikumshit
Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« hat eine außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte: Geschrieben in den 1930er Jahren, wurde er erst Mitte der 60er Jahre, über 25 Jahre nach dem Tod des Autors, publiziert – und erlangte in der Sowjetunion augenblicklich Kultstatus. Die facettenreiche Form des Romans, der Satire, fantastisch-spirituelle Elemente, Philosophie-Traktat und politischen Kommentar miteinander verbindet, lässt vielerlei, auch widersprüchliche Interpretationen zu und gilt als schwer verfilmbar. Andrzej Wajda beschränkte sich in seinem 1971 fürs ZDF produzierten Fernsehfilm »Pilatus und andere« auf den in Jerusalem spielenden Teil der Erzählung. Andere Adaptionen, wie etwa Yuri Karas mit russischen Stars und einem Score von Alfred Schnittke hochkarätig besetzte Version von 1994, fanden wegen juristischer und anderer Dispute nie ihr Publikum. Ein Schicksal, das Michael Lockshins im Jahr 2021 gedrehte Verfilmung fast auch ereilt hätte: Der 1981 in den USA geborene Regisseur mit russisch-amerikanischen Vorfahren war nach Drehschluss in die USA zurückgekehrt, von wo er sich lautstark gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine äußerte. In Russland konnte der Film unter Anfeindungen erst im Januar 2024 ins Kino kommen, entpuppte sich dann aber als regelrechter Publikumshit.
Dabei hat Lockshin seine Adaption keineswegs besonders an aktuelle Verhältnisse angepasst: Wie der Roman spielt auch der Film im Moskau der 1930er Jahre, das die digital verstärkte Ausstattung hier als erfüllten Traum futuristischer Architektur malt. Das Theaterstück des »Meisters« (Evgeniy Tsyganov) über Pontius Pilatus wurde gerade abgesetzt, er selbst wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, begegnet aber Margarita (Yuliya Snigir), die ihn als Geliebte und Muse zur Arbeit an einem Roman anstiftet, in dem er einen Teufel namens Woland (August Diehl) samt Entourage in Moskau sein Unwesen treiben lässt. Oder ist Letzteres die eigentliche Realität? Und den eloquenten Herrn Woland, der eines Tages so nonchalant am Ufer des Patriarchenteichs auftaucht und dem kläglichen Vorsitzenden des Schriftstellerverbands MASSOLIT seine baldige Enthauptung vorhersagt, weil »Annushka das Öl schon verschüttet hat«, gibt es wirklich? Mit teuflischer Häme und bösen Tricks führen er und seine Gefolgschaft, zu der ein sprechender Kater namens Behemoth gehört, den Opportunismus, die Korruption und vor allem die Feigheit der Intellektuellen dieser Zeit vor Augen, kulminierend in einem regelrechten Hexenball, der sich aber genauso als Kritik an Konsumgier lesen lässt.
Der Film wechselt die Zeitebenen – eine davon zeigt den Meister in einer Irrenanstalt, eine andere den von Claes Bang gespielten Pontius Pilatus – und berührt Themen wie Zensur, die Natur von Gut und Böse, die Macht der Liebe und der Kunst. Wie schon im Roman ist das alles ein bisschen viel, und wie es dem Roman entspricht, entzieht sich auch Lockshins Adaption den einfachen Erklärungen. Auch das passt in unsere Zeit.
Kommentare
Warum Der Meister und Margarita nicht systemkritisch ist, sonder
Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Ein aufwendig produzierter russischer Film, der Unterdrückung, Zensur und staatliche Willkür im stalinistischen Moskau zeigt – und trotzdem vom russischen Staat mit Millionen gefördert wurde. Noch erstaunlicher: Er läuft erfolgreich in russischen Kinos, während derselbe Staat in den besetzten Gebieten der Ukraine Stalin-Banner hisst und Sowjetflaggen schwenkt. Doch dieser Widerspruch ist keiner. Der Film Der Meister und Margarita fügt sich nahtlos in die ideologische Strategie des heutigen russischen Regimes ein – und wirkt nur auf den ersten Blick kritisch.
Die im Film dargestellte Repression bezieht sich eindeutig auf die Stalin-Zeit. Das ist in Putins Russland nicht verboten – im Gegenteil: Eine gewisse historische Aufarbeitung wird zugelassen, solange sie nicht ins Heute reicht. Die Botschaft lautet: „Damals war es schlimm. Heute sind wir zivilisiert.“ Die Kritik wird ins Museum verbannt, wo sie keine Gefahr darstellt.
Der Meister und Margarita ist klassische Hochkultur – keine Aktivistenkunst, keine Anklage in Echtzeit. Solche Werke erfüllen in autoritären Staaten oft eine gezielte Funktion: Sie schaffen ein Bild intellektueller Toleranz, geben dem bildungsbürgerlichen Publikum ein Feigenblatt der Reflexion, ohne das Fundament des Systems zu erschüttern. Sie bieten Katharsis ohne Konsequenz.
Trotz aller Kritik bleibt die Symbolik eindeutig: Der Teufel kommt nach Moskau, nicht nach Kyiv. Moskau ist Zentrum des Bösen, aber auch Zentrum des Bedeutenden. Die Stadt bleibt geistiger Mittelpunkt, genau wie im Weltbild der russischen Staatsideologie. Das “imperiale Selbstverständnis” Russlands wird nicht dekonstruiert, sondern gestärkt.
Michail Bulgakow wurde 1891 in Kyiv geboren, also im Herzen der heutigen Ukraine. Doch er war kein Freund ukrainischer Selbstständigkeit. Geschweige denn Unabhängigkeit. Ganz im Gegenteil: Seine Werke und Haltungen spiegeln eine imperiale russische Sicht auf das ukrainische Volk.
In seinem Theaterstück Die Tage der Turbinen (1926), das auf seinem Roman Die weiße Garde basiert, beschreibt er die chaotischen Wirren der Revolution 1918–19 in Kyiv. Ukrainische Nationalisten wie die Petljuristen oder Sympathisanten der Ukrainischen Volksrepublik stellt er als primitiv, hysterisch, ungebildet oder barbarisch dar. Die Turbinen-Familie, russischsprachige, kaiserlich gesinnte Intellektuelle, ist das Gegenbild: gebildet, zivilisiert, „kultiviert russisch“. Die implizite Botschaft ist klar: Die Ukraine ist unfähig, sich selbst zu regieren. Ordnung kann nur aus Moskau kommen.
Diese Haltung ist nicht bloß konservativ, sondern klar antiukrainisch, tief elitär und loyal gegenüber der Idee eines unteilbaren russischen Reiches. In Bulgakows satirischen Texten wird die ukrainische Sprache als tölpelhaft, bäuerlich, lächerlich dargestellt und das nicht nur aus Spott, sondern aus Überzeugung und Verachtung.
Dass der heutige russische Staat ihn als „russischen Klassiker“ vereinnahmt, ist kein Missverständnis, sondern bewusste ideologische Nutzung eines Autors, der die ukrainische Nation als solche verneint. Seine Werke liefern kulturelle Legitimität für ein Imperium, das gerade versucht, die Ukraine physisch und geistig zu unterwerfen. Bulgakows Bild der Ukraine korrespondiert mit Putins Narrativ, wonach die ukrainische Nation künstlich und historisch unbegründet sei.
In den besetzten ukrainischen Gebieten hängen heute Stalin-Plakate und Sowjetflaggen, was dem Film zu widersprechen scheint. Doch diese Gleichzeitigkeit ist Teil der Strategie: Der Staat kann Stalin als Sieger des „Großen Vaterländischen Krieges“ verherrlichen und ihn gleichzeitig als Symbol vergangener Repression im Kino zeigen. Er betreibt eine selektive Geschichtspolitik, die je nach Zielgruppe unterschiedliche Lesarten zulässt und damit alle Strömungen unter Kontrolle hält.
In Russland bedeutet Widerspruch keine Systemkrise, sondern Stabilität. Intellektuelle dürfen Bulgakow interpretieren, Nationalisten dürfen Stalin feiern. Beides widerspricht sich und passt doch in dasselbe Machtsystem. Diese kontrollierte Ambivalenz entzieht der Gesellschaft die klare Haltung, spaltet mögliche Opposition und stabilisiert den Status quo.
Der Meister und Margarita ist kein subversiver Film, sondern ein ästhetisch geschliffenes Staatsprojekt. Er übt Vergangenheitsschelte, um Gegenwartstreue zu ermöglichen. Er spricht von Unterdrückung – aber nicht von Protest. Er zeigt Moskau als Bühne des Absurden, aber auch als Mittelpunkt der Welt. Er zitiert einen Autor, der die ukrainische Identität „legitim“ verachtete, da er sie selbst hatte und passt damit perfekt in die imperiale Logik des modernen Russlands. Er zitiert einen Autor, der die ukrainische Identität verachtete und dessen Herkunft dies besonders „legitimiert“. Die Ukraine habe kein eigenes historisches Recht auf Existenz, sondern sei immer schon Teil eines größeren russischen Ganzen gewesen.
„Kritik“ wird hier nicht unterdrückt. Sie wird ästhetisiert, historisiert und neutralisiert, bis nur noch eines bleibt: ein kulturelles Bekenntnis zum Staat.
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