Kritik zu Der Fremde am See

© Alamode

Ein »cruising spot« an einem Strand ist der nicht gerade alltägliche Schauplatz von Alain Guiraudies minimalistischem Thriller um Sex und Tod

Bewertung: 4
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 1)

Nicht ein einziges Mal ertönt Musik in diesem Film, der gleichwohl sehr musikalisch ist. Sein dichtes akustisches Gewebe besteht aus dem Rauschen von Bäumen im Wind, Vogelgezwitscher, dem Klang eines fernen Flugzeugs, von Schritten auf Kies und von Schwimmzügen im See. Bisweilen hört man leise Gespräche, dann wieder ein Hecheln beim Sex. Und immer wieder ist da eine Stille, die im Verlauf des Films immer unergründlicher wird. So subtil wie das Sounddesign ist auch die Bildgestaltung von Der Fremde am See. In langen, oft sonnendurchfluteten Einstellungen und an einem einzigen Schauplatz, einem Kosmos, der kaum eine Verbindung zur restlichen Welt zu haben scheint, baut der Film eine Atmosphäre und eine Spannung auf, der man sich kaum entziehen kann.

Mit der Totalen eines staubigen Parkplatzes irgendwo in Südfrankreich beginnt er – eine typische Szenerie in Strandnähe. Autos sind im Schatten der Bäume abgestellt, ein Neuankömmling stellt seinen Wagen dazu – ein Bild, das immer wiederkehren und die Handlung interpunktieren wird. Was folgt, wirkt zunächst wie ein lässig-leichter schwuler Liebesfilm: Der gutaussehende junge Franck (Pierre Deladonchamps) legt sich an den kleinen Strand am Rande eines Sees, wechselt beiläufige Begrüßungen und taxierende Blicke mit den anderen Männern, die dort in der Sonne liegen, hin und wieder schwimmen gehen oder in einem Wäldchen verschwinden, um dort schnellen, unverbindlichen Sex zu haben. Franck lernt Henri (Patrick d’Assumçao) kennen, der stets etwas abseits sitzt und keinerlei sexuelle Ambitionen hat, und schließt Freundschaft mit ihm. Und im Laufe der nächsten Tage kommt er auch dem geheimnisvollen Michel (Christophe Paou) näher. Der könnte einem Schwulenporno der 70er Jahre entstiegen sein: ein athletischer Schwimmer mit einem Schnauzbart à la Tom Selleck, doch auch leicht verschlagenem Lächeln. Wie gut, dass Michels eifersüchtiger Begleiter irgendwann von der Bildfläche verschwindet und Franck eine Affäre mit ihm beginnen kann. Er verliebt sich, obwohl er zu diesem Zeitpunkt längst weiß: Michel ist gefährlich.

Die Inszenierung von Alain Guiraudie, der in Cannes nicht nur die Queer Palm, sondern auch den Regiepreis der Sektion »Un Certain Regard« erhielt, gewinnt ihren sehr eigenen Reiz aus dem Kontrast zwischen Natürlichkeit und Stilisierung. Sein Blick auf die Figuren und deren Interaktion wirkt fast dokumentarisch – auch in den sehr expliziten Sexszenen –, doch das Geflecht aus Mehrdeutigkeiten, welches er im Verlauf der Handlung immer dichter webt, ist ein hochartifizielles Konstrukt. Der »cruising spot« wird dabei zu einem Versuchslabor unter blauem Himmel. Schleichend und wiederholt wechselt die Perspektive von einem scheinbar objektiven Standpunkt zum subjektiven Blick Francks. Die an der Oberfläche so unkomplizierte körperliche Intimität des »cruising« wird – ohne sie je zu denunzieren – auch zu einer Chiffre von Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht. Franck ist auf der Suche nach einer anderen Intensität, auch wenn oder gerade weil sie in Gestalt von Michel mit Bedrohung aufgeladen ist.

Psychologische Deutungen sind in diesem Spiel ebenso naheliegend wie mythologische, die Abgründe in dieser sonnigen Szenerie sind zugleich menschlicher wie märchenhafter Natur. Deutlich sind die Bezüge zu Freud und Bataille, zu den triebhaften Unterwelten von Friedkins Cruising man mag aber ebenso an die grausigen Legenden um den Knabenmörder Gilles de Rais denken, Vorbild für das Märchen von Blaubart. Auch explizit surreale Elemente fließen in den Film ein, etwa wenn Henri vom fünf Meter langen Wels in den Tiefen des Sees erzählt, der schon unvorsichtige Schwimmer gefressen haben soll. Wunderlich ist auch jener Kommissar, der mehrfach wie aus dem Nichts plötzlich am Strand oder im Unterholz steht und Fragen stellt, das Verschwinden von Michels Liebhaber betreffend, als wolle er den Film in die Bahnen eines klaren Krimiplots lenken. Doch Der Fremde am See lässt sich nicht festlegen, in aller Stille und Nachdenklichkeit oszilliert dieser außergewöhnliche kleine Film zwischen Genres und Bedeutungen, flirrend wie ein heißer Nachmittag am Strand – bis er in der Schwärze der Nacht endet.

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