Cannes 2016: Die deplatzierte Palme

Eine Palme gegen die Wünsche des Publikums/gegen den Trend
Jury und GewinnerInnen der 69ten Filmfestspiele von Cannes © Antonin Thuillier / AFP

Nach der Preisverleihung herrschte Katerstimmung: Die elf Tage dieser 69. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes waren in einem Rausch mit selten intensiven Höhen und Tiefen vergangen, bei dem sich Beifallstürme für einzelne Filme mit Buhrufen für andere abgewechselt hatten. Dieses Auf und Ab der Gefühle brach die Preisverleihung wie mit kalter Dusche ab. Und das nicht nur, weil der erklärte Liebling des Festivals, Maren Ades »Toni Erdmann« – dem bei seiner Premiere die für einen deutschen Film ungewöhnliche Ehre von Zwischenapplaus und Ovationen zuteil wurde und immerhin den angesehen FIPRESCI-Preis erhielt – leer ausging, sondern weil die Jury unter ihrem Vorsitzenden, dem »Mad Max«-Regisseur George Miller mit ihren Auszeichnungen gegen alle vielversprechenden Tendenzen des Festivals entschied. Statt eines aufregenden Newcomers gewann wieder ein bekannter Altmeister, statt ästhetisch Wagnisse eingehende Filme wurden sozialrealistischen Dramen bevorzugt und statt endlich zum zweiten Mal einer Frau die Goldene Palme zuzugestehen, gingen die prestigereichen Hauptpreise wieder an Männer.

Dementsprechend gereizt verlief die Verleihungszeremonie: Der bekennende Linke Ken Loach musste sich die Goldene Palme ausgerechnet von dem für seine teils ultrakonservativen Ansichten bekannten Mel Gibson überreichen lassen. Gibson wiederum führte seinen Auftritt mit der Erinnerung ein, dass Cannes ein wichtiges Karrieresprungbrett darstellt, was nicht die richtige Überleitung für die Vergabe der Palme an einen 79-Jährigen war, der zum 16. Mal am Festival teilnahm, vor zehn Jahren bereits das erste Mal die Goldene Palme gewonnen und vor zwei Jahren seinen Rückzug vom Filmemachen verkündet hatte. Zwar ist Ken Loach mit »I, Daniel Blake« ein erneut außergewöhnlich bewegender und mitreißender Film gelungen, der von einem durch Krankheit arbeitslos gewordenen Mittfünfziger und seinem Kampf mit den Tücken des wenig kundenfreundlichen britischen Sozialsystems erzählt. Doch im Feld der vielen außergewöhnlichen Filme des diesjährigen Programms wirkte Loachs Auszeichnung wie ein falscher Rückzug aufs Altvertraute.

Xavier Dolan am Set von »It's Only the End of the World« (2016). © Festival de Cannes

Doch nicht nur bei der Goldenen Palme handelte die Jury klar an der Festivalstimmung vorbei: Der Grandprix, gleichsam die Silbermedaille, ging an das kanadische Jungtalent Xavier Dolan, der trotz seines jugendlichen Alters von 27 schon ein Cannes-Veteran ist und für sein Familiendrama »It's Only the End of the World« nach seinem Film »Mommy« vor zwei Jahren auch bereits die zweite Wettbewerbsauszeichnung erhielt. Sein Film hatte das Publikum in Cannes in ähnlicher Weise gespalten wie »Personal Shopper« vom Franzosen Olivier Assayas, der sich mit dem Rumänen Cristian Mungiu (»Graduation«) den Regie-Preis teilen musste. Sowohl Dolans hitziges Familiendrama als auch Assayas' kühne Geister- und Krimigeschichte und auch Mungius geduldige Sektion gesellschaftlicher Korruption bilden zwar würdig das aktuelle europäische Autorenkino ab, hatten aber allesamt in diesem Jahr nicht ihre innovativste Seite gezeigt.

Völlig vorbei am Puls der Croisette in diesem Jahr bewegte sich die Vergabe des Jurypreises, der ein bisschen den Trostpreis des Festivals darstellt. Die Britin Andrea Arnold musste mit ihrem Roadmovie »American Honey« bereits zum dritten Mal damit Vorlieb nehmen, womit auch stellvertretend die Ambitionen der stets unterrepräsentierten weiblichen Filmemacherinnen in Cannes auf ihren Platz verwiesen wurden. »American Honey« erzählt von einer jungen Texanerin, die von zuhause ausbricht und als Mitglied einer Gruppe von jugendlichen Hausierern eine eigentümliche Nische zwischen Freiheit und Zwang findet. Nicht bei allen beliebt, aber oft für seine schöne Intensität und seinen Rhythmus bewundert, lieferte »American Honey« zusammen mit Maren Ades hoch gehandelten »Toni Erdmann« in diesem Jahr den Beweis, dass »Frauenfilme« im traditionell noch sehr patriarchalisch organisierten Festival mehr als mithalten können. Ein lang fälliges Eingeständnis, das die Jury unter George Miller klar verpasst hat. 

Die Frauen kamen also ein weiteres Mal zu kurz, auch wenn der Darstellerinnenpreis mit der philippinischen Schauspielerin Jaclyn Jose eine außergewöhnliche und angenehm wenig dem Starlet-Ideal entsprechende Vertreterin fand. Jose spielte in Brillante Mendozas Film »Ma' Rosa« eine Familienmatriarchin, die in Drogengeschäfte verwickelt ist. Symptomatisch erscheint deshalb, dass der vormalige Berlinale-Gewinner und iranische Oscar-Kandidat Asghar Farhadi für seien Film »The Salesman« gleich zwei Preise, den für den besten männlichen Darsteller und den fürs Drehbuch, gewann. »The Salesman« nämlich erzählt das, was eigentlich eine Frauengeschichte ist, ganz aus der Sicht des Mannes: Ein Ehemann (Preisträger Shahab Hosseini) wird nicht damit fertig wird, dass seine Frau fast vergewaltigt worden wäre. 

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