Urbane Perspektiven

Die zwei Ereignisse, auf die ich Sie heute hinweisen will, haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Es liegen Welten zwischen ihnen; sie unterscheiden sich in Graden der Aktualität und auch Tragweite. Aber gut möglich, dass das Publikum des einen sich auch für das andere interessiert.

Heute früh las ich, Putins Vertrauter Dimitri Medwedew gehe davon aus, dass die Ukraine in zwei Jahren von der Weltkarte verschwunden sei. Dieser Drohgebärde hätte es nicht bedurft, um die Notwendigkeit der Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« vor Augen zu führen. Sie läuft bis Ende des Monats parallel in Berlin, Hamburg und Leipzig bei kostenlosem Eintritt. Die nach Berlin geflüchtete Kuratorin Victoria Leshchenko hat sie zusammen mit ihrer in Odessa ausharrenden Kollegin Yuliia Kovalenko im Auftrag der deutschen Kinemathek konzipiert. Sie bündelt zahlreiche Facetten dessen, was FilmemacherInnen des Landes umtreibt. Darunter sind prominente Titel wie »Klondike«, aber auch viele, die nicht so häufig zwischen Festivals oder Programm- und Kommunale Kinos zirkulieren. Der Auftakt des Programms liegt schon vier Tage zurück, ihn bildete Dovzhenkos »Arsenal«(siehe Montage der Attraktionen" vom 20. 11. 2017). Verzeihen Sie, dass ich verspätet auf die Veranstaltung hinweise. Ich hatte schlicht ein falsches Datum notiert, wie ich heute feststellte. Hoffen wir, dass Medwedew sich nicht nur im Termin, sondern überhaupt irrt.

Unter diesen "Perspectives" hatte ich mir zunächst eine andere Ausrichtung vorgestellt. Ich dachte an die Zukunft. Naiv machte ich den zweiten Schritt vorm ersten. Nach dem Zivilisationsbruch des russischen Angriffs ist sie ungewisser denn je. Was bleibt, ist die Identität. Hier kommt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ins Spiel: der Standpunkt. Den spiegelt die Reihe als lebhaften Plural wider. Diese Entdeckungsreise kann man nicht mit leichtem Gepäck unternehmen. Was mich darüber hinaus am Konzept der Reihe begeistert, ist die Idee der Gleichzeitigkeit. Das Publikum an verschiedenen Orten kann sich denselben filmischen Erfahrungen aussetzen. Sein Erlebnis ist vernetzt. Dabei kann ein anderes Gefühl von Gemeinschaft entstehen als es der Fall ist, wenn ein Film allerorten zum gleichen Termin startet.

Dass die Stadt als besonderer Aufführungsrahmen begriffen und genutzt werden kann, verbindet die Reihe mit dem zweiten Ereignis. Ein weiteres Bindeglied könnte das Thema der Identitätsfindung sein. Am kommenden Sonntag (19.6.) läuft in 16 Hamburger Kinos Klaus Lemkes Fernsehfilm »Rocker«. Die Initiative „Eine Stadt sieht einen Film“ feiert damit das 50. Jubiläum seiner Erstausstrahlung. Das wird eine große Sause. Lemke stellt ihn vor, es läuft eine Retrospektive seines Werks, es finden Führungen zu den Drehorten und eine Art Fanartikel-Börse statt. Für viele ZuschauerInnen hat »Rocker« das filmische Bild von Hamburg definiert. Nun ist Lemke ihn nie ohne Großspurigkeit zu haben. Aber es passt schon insofern, als sein Film auch von der Besitznahme des städtischen Raums handelt.

Ich habe mir bisher keinen Begriff gemacht von dem enormen Kultstatus gemacht, den er inzwischen genießt. Dabei hätte ich 1972 die Zeichen schon sehen können. Ich glaube, das ZDF sendete ihn an einem Freitagabend. Die Pausengespräche am nächsten Morgen drehten sich um nichts anderes. Unsere Schulkameraden teilten sich in zwei Gruppen auf: die, die ihn gesehen hatten und die Ahnungslosen. Bei Schulschluss war er eine Legende. Wir waren stolz, zu den Eingeweihten zu gehören. Mir fehlte die Traute, meinen Freunden zu gestehen, dass ich ihn nicht zu Ende sehen durfte. Meine Eltern hatten ungnädige Vorstellungen davon, wann ein Elfjähriger ins Bett gehörte.

Gleichviel, »Rocker« war unsere erste Begegnung mit dem Lemke-Stil. Filme mit Laiendarsteller kannten wir nicht. Das Milieu, das Lemke zeigt, erst recht nicht. Hamburg lag nur rund 200 Kilometer entfernt, aber diese Welt war exotischer als der Wilde Westen. Mein Bruder fuhr zwar eine Honda und bastelte am Wochenende mit seinen Freunden an deren Maschinen herum. Er hatte eine richtige Werkstatt eingerichtet, die der Fluchtpunkt ihrer Clique geworden war. Aber sie waren alle bürgerlich, trugen keine langen Haare und einer von ihnen fuhr offiziell einen Opel Kadett.

Mit Lemkes Rockern konnten wir uns dennoch identifizieren, nicht nur, weil es da den jüngeren Bruder gab, sondern erst recht, weil sie eine Gang bildeten..Zusammen halten gegen den Rest der Welt. Das war ein Schrecken für Eltern und Lehrer. Einer von uns behauptete, vorher schon »Easy Rider« gesehen zu haben, was angesichts seines Alters ziemlich unwahrscheinlich war, ihm aber einen gewissen Ruhm einbrachte. Auch »Rocker« hatte ein Flair des Verbotenen, denn er lief im Spätprogramm. Die Sprüche, die unter Fans zu geflügelten Worten geworden sind, gingen uns flott über die Lippen. "Mach dich gerade" etwa. Meinem Freund Ralf gefiel "Wir sind zeitlos" besonders gut. Dabei waren wir noch in einem ironiefreien Alter.

Lemke wurde eine Marke für uns, aber seine späteren Filme hatten nie mehr die gleiche Wirkung. Was wir vor allem aus „Rocker“ mitnahmen, war die Musik. "It's all over now, Baby Blue" fehlte fortan auf keiner Party. Mir gefiel Santana besser, "Jingo" und "Black Magic Woman" hörten wir rauf und runter, nachdem Ralf das Album gekauft hatte. Er fing selbst an, Gitarre zu spielen. Er konnte es auch nicht erwarten, seinen Führerschein zu machen. Wenn er mich später auf seiner Maschine mitnahm, fachsimpelten wir. Warum war »Rocker« seither nie wiederholt worden? Ich hatte nie den Mut, ihm mein Geheimnis zu verraten.

 

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