Hörkino: ein Double Feature

Seit ich vor zwei Wochen den Band „Hitchcock – Alle Filme“ über den grünen Klee lobte, sind mir zwei Lücken aufgefallen, die in der Totalen seines Blicks klaffen. Sie sind weder dramatisch noch unverzeihlich, aber nennenswert.

Zum einen ist im Buch an keiner Stelle von dem Stummfilm „The White Shadow“ die Rede, der 2011 in Neuseeland wiederentdeckt wurde. Der Fund war spektakulär, wenngleich es sich nur um ein Fragment von 40 Minuten handelt und das Ausmaß von Hitchcocks Mitwirkung umstritten ist. Immerhin ist eine Fraktion der Historiker überzeugt, dass der Film 1923 von Graham Cutts und Hitchcock gemeinsam inszeniert wurde, er mithin seine früheste Regiearbeit darstellt. Im Gespräch mit Francois Truffaut hingegen erhebt Hitch keinen Anspruch darauf. Als ich das Gesellschaftsmelodram vor einiger Zeit auf DVD sah, schien es mir nicht unbedingt dessen Handschrift zu verraten, aber vielleicht doch sein Wasserzeichen zu tragen. Ein weiteres, hübsches Mysterium.

Und während der Band ausführlich auf Hitchcocks Fernseharbeiten eingeht und sie überzeugend als Werke aus eigenem Recht verhandelt, erwähnt er sein Schaffen für das Radio nur am Rande. In den 1940er Jahren lief jedoch bereits die „Alfred Hitchcock Show“ - wie lang, das hat bisher keinen Historiker wirklich interessiert -, welche auf seine ungleich berühmtere Fernsehserie voraus weist. Unbekannt war der Regisseur damals mitnichten, im Vorspann der 30minütigen Sendungen wird er als „the Cavalier of the Macabre“ vorgestellt und werden „Eine Dame verschwindet“, „Rebecca“, „Verdacht“ sowie „Ich kämpfe um dich“ genannt: in der Gewissheit, dass das Publikum mit ihnen vertraut ist. Hitch verfügte bereits über ein Image, das er weiter kultivieren konnte. Er bringt es genüsslich ins Spiel („A lot of people believe I' m a monster“), wenn er persönlich in die Rundfunkthriller einführt. Eine Folge hat er selbst inszeniert. Angaben über sein Entstehungsdatum schwanken zwischen 1945 und 1946. Auf jeden Fall ist es nach „Spellbound“ (Ich kämpfe um dich) entstanden, denn in der Radiomusik erklingt federführend ein Theremin, also jenes mulmige elektronische Instrument, das er in Miklos Rosza bei diesem Film gemeinsam für das Kino erschlossen.

Auch die Romanvorlage hat ein illustres Vorspiel in seiner Filmkarriere, als ein nicht realisiertes Projekt. Es handelt sich um „Malice Aforethought“ von Francis Iles, über das er eingehend mit Truffaut diskutiert. Die Lakonie des Eröffnungssatzes hatte ihn gefesselt: „It was not until several weeks after he had decided to murder his wife that Dr. Bickleigh took any acive steps in the matter.“ Er legt Truffaut die Besetzungs- und Zensurprobleme dar, die eine Verfilmung vereitelten. Die Hauptrolle müsste ein älterer Mann spielen, aber James Stewart würde nie einen Mörder spielen, allenfalls mit Alec Guiness hätte man sich das vorstellen können, aber nicht in einer Hollywoodproduktion. Ein Hitchcock-Film manqué.

Zum 100. Geburtstag des Regisseurs 199 hat der Bayerische Rundfunk dieses Fundstück ausgegraben und in einer Bearbeitung von Michael Farin und Hans Schmid gesendet. Die Zwei steuern viel Wissenswertes bei, insbesondere über den Romanautor, der eigentlich A.B. Cox hieß, außerdem das Pseudonym Anthony Berkeley benutzte und die Kriminalliteratur Anfang der 1930er revolutionierte. Zum Jubiläum von Hitchcocks Tod wurde es 2020 erneut ausgestrahlt. In der Mediathek von BR2 ist es wohl nicht mehr abrufbar, aber auf dem Blog „radiohoerer.info“ finden Sie es.

Die Radiobearbeitung nimmt den Roman – ich halte gerade stolz die vergilbte Ausgabe in Händen, die 1946 bei Zephyr Books erschien und die ich in irgendeinem Antiquariat in meiner Nachbarschaft entdeckte – gründlich auseinander, fängt mit Dr. Bickleys Gerichtsverhandlung an und blendet von ihr munter zurück. Unter den Sprechern sind einige bekannte Schauspieler, etwa Jeff Corey. Die Handlung ist zuvorkommend von der englischen Grafschaft Devon an die Ostküste der USA verlegt worden. Hitch selbst mischt das Geschehen wortreich auf. Er verspricht, nur ein paar hilfreiche Kommentare einstreuen und dem Drama nicht in die Quere kommen zu wollen, aber er tut es dann doch mit maliziösem Elan. Er liefert gleichsam den sarkastischen Audiokommentar zu seiner einzigen Radioregie. Francis Iles' unwiderstehlichen Auftaktsatz kann er nicht unterbringen, wohl aber die zwei folgenden: „Murder is a serious business. The slightest slip may be disastrous.“ Das Hörspiel reduziert die verwickelte Handlung auf ein Skelett; ein Schemen dessen, was der Film hätte sein können. Die Geliebte Dr. Bickleys immerhin trägt den schicksalsreichen Namen Madeleine, jedoch ohne die verzweifelte Würde, die Kim Novak ihm in „Vertigo“ verleiht.

Statt „Malice Aforethought“ hat Hitch mit „Verdacht“ 1941 den zweiten Roman von Iles verfilmt, „Before the Fact“ („Vor der Tat“, mein Heyne-Taschenbuch ist nicht weniger vergilbt). Wiederum hat es der erste Satz in sich („Einige Frauen bringen Mörder zur Welt, andere gehen mit ihnen ins Bett und wieder andere heiraten sie.“) und legt der zweite die erzählerischen Karten prompt auf den Tisch („Lina Aysgarth hatte mit ihrem Mann bereits acht Jahre zusammengelebt, ehe ihr klar wurde, dass sie mit einem Mörder verheiratet war.“). Auch dieser Iles-Stoff kollidierte mit landläufigen Erwartungshaltungen: Das Studio war überzeugt, dass das Publikum Cary Grant nicht in der Rolle eines Mörders sehen wolle. Vor dem gleichen Problem stand Hitchcock bereits 1926, als er den Publikumsliebling Ivor Novello in der Titelrolle von „Der Mieter“ besetzte. (Ich liebe den kompletten Originaltitel „The Lodger – A Story of the London Fog“ allein schon für seine lapidare Verknüpfung von Stadt, Atmosphäre und Pathologie.)

Der Aberwitz, aus einem Stummfilm ein Hörspiel zu machen, hätte dem Meister gefallen. So groß ist er natürlich gar nicht. Wie ihre „Vertigo“-Variation (siehe Eintrag „Unmögliche Erinnerungen“ vom 31.7. 2018) speist sich Regine Ahrems Kunstkopfhörspiel aus zwei Quellen: Hitchcocks Film und der Vorlage, dem Jack-The-Ripper-Roman von Marie Belloc Lowndes. Man darf gespannt sein, was ihr Sprecherensemble morgen Abend auf der Bühne des Wiener Konzerthauses damit anstellt. Mit einigen von ihnen habe ich selbst schon beim rbb gearbeitet, etwa der trefflichen Regina Lemnitz und Gerd Wameling, dessen Stimme ich erst gar nicht erkannte, so jung klingt er in der Titelrolle. Sie legen sich freudig ins Zeug, wovon Sie sich auch diesseits der Donau überzeugen können: Bei Osterwold audio ist ein Hörbuch erschienen.

Ahrem macht in dem Hörspiel ziemlich genau das, was Hitch im Gespräch mit Truffaut für sich reklamiert: Sie konzentriert sich auf die Perspektive der fürsorglichen Pensionsinhaberin, die zuerst entzückt ist von ihrem jungen, noblen Untermieter und sein nächtliches Treiben bald mit mählichem Argwohn betrachtet. Allerdings spielt die Öffentlichkeit, die moderne, mediale der 1920er Jahre, im Film eine zentrale Rolle. Die schrecklichen Ereignisse verwandeln sich vor der Kamera unverzüglich in Nachrichten, werden von Journalisten telefonisch an Redaktionen weitergeleitet, sind als Zeitungsschlagzeilen und Bulletins im Rundfunk zu sehen. Den Lynchmob des furiosen Finales (mit dem Handschellen-Fetisch!) gibt es im Hörspiel nicht, an seine Stelle tritt wiederum eine Gerichtsverhandlung. Eine weitere, bemerkenswerte Abweichung vom Film ist die Trunksucht ihres Mannes, über welche die Vermieterin mehrfach klagt. Diskret öffnet sich ein Spalt erotischer oder doch zumindest romantischer Anziehung zwischen ihr und dem Gentleman, der bei ihr logiert. Er gibt sich als Wissenschaftler zu erkennen, als Vegetarier und schließlich als fanatischer Puritaner. Das Verbrechen wird im Hörspiel gleichsam domestiziert, aber das bleibt nicht so. Ahrem konstruiert das Ende halbwegs so, wie es Hitchcock gern im Film umgesetzt hätte. Ihm wäre es lieber gewesen, der Fremde würde im Dunkeln verschwunden und man bekäme nie Gewissheit. Wahrlich, eine Geschichte aus dem Londoner Nebel.

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