Aufreizende Verrichtungen

Vor 15 Jahren, als seine Filme noch in unsere Kinos kamen, gab der taiwanesische Regisseur Tsai Ming-liang seiner Vorstellung der Liebe eine sehr schöne, buddhistische Definition: Sie sei eine Mischung aus Determinismus und Ungewissheit. Demzufolge ist jeder Begegnung eine Ewigkeit eingeschrieben, auch wenn sie nur kurz andauert.

Seinerzeit löste „The Wayward Cloud“ im Wettbewerb der Berlinale und später auch beim Kinostart heftige Kontroversen aus. Seither ist die Kreativität des taiwanesischen Regisseurs nicht erloschen. Aber für Verleiher stellen seine Arbeiten eine enorme Herausforderung dar, weshalb sie nun vor allem bei einem ihrer Co-Produzenten zu sehen sind, auf arte. Auch sein jüngster Film „Rizi“ (Days) ist jetzt dort zu sehen, nachdem er wiederum im Berlinale-Wettbewerb lief und von der Jury des Teddy ausgezeichnet wurde. Der Sender hat ihn morgen kurz vor Mitternacht ins Programm genommen; im „arte Magazin“ figuriert er als Dokumentarfilm, was ich nur halbwegs verstehe.

Nach „Das Purpurmeer“, der in der Sektion „Forum Expanded“ lief, ist dies der zweite diesjährige Berlinalefilm, der schon im Fernsehen läuft. Diese Form der Sichtbarkeit hat gewiss nichts mit dem zwischenzeitlichen Lockdown der Kinos zu tun, sondern ist jeweils formaler Strenge geschuldet. Von der Ausstrahlung des Essay-Films von Amel Alzakout und Khaled Abdulwahed hat vor etwas mehr als einem Monat die hiesige Presse einige Notiz genommen – sein Smartphone-Hyperrealismus und sein Thema, der Überlebenskampf von Geflüchteten, verleihen ihm eine zeitaktuelle, aber auch poetische Dringlichkeit. Ich vermute, der Film des Taiwanesen könnte sich demgegenüber unbemerkt versenden. (Die Feuilletons von morgen kenne ich noch nicht.) Mich hat während der Berlinale fasziniert, wie er in „Day“ seine Entdeckung der Langsamkeit fulminant fortsetzt. Ulrich Sonnenschein gefiel er damals nicht (https://www.epd-film.de/blogs/berlinale/2020/statisch-wortlos-und-unendlich-langsam); ihm hätte auch die Hälfte seiner Laufzeit genügt.

In der Tat, Tsai Ming-Liang hat Geduld mit seinem Publikum. Ungern weiht er es zu früh ein in das, was gerade passiert. Es ist beispielsweise eine kuriose Prozedur, der sich Kang, einer der zwei Protagonisten, hier unterzieht. Merkwürdige Objekte sind auf seinem Rücken drapiert, kleine Holzstückchen liegen neben Metallscheiben, über denen Kugeln glühen oder wieder entzündet werden müssen. Diese Behandlung mag Heilung versprechen, erfordert aber komplizierte Brandschutzmaßnahmen. Es dauert eine Weile, bis wir entdecken, dass es sich bei ihr um eine besonders brenzlige Spielart der Akupunktur handelt.

Orthopädische Unbill ist uns zwar aus seinen früheren Filmen vertraut, die den Betroffenen eher Kontorsionen als Bewegungen gestatteten. Sein Stammschauspieler Lee Kang-Sheng, der früher die Jüngeren verkörperte, übernimmt in „Days“ nun den Part des Gebrechlichen. Die Nackenschmerzen, die seine Figur peinigen, sind auch seine eigenen, was die Kategorie des Dokumentarischen freilich noch nicht ganz rechtfertigt. Zuweilen erleben wir ihn nur als ruhende Figur, die atmet und schaut. Der zweite Protagonist Non (Among Houngheuangsy) ist etwas aktiver. Nicht, dass ihm Aufsehenerregendes widerfahren würde. Sein Dasein erfüllt sich in alltäglichen Verrichtungen, der Zubereitung von Mahlzeiten und deren Verspeisen. Auch er muss manchmal ruhen. Die Kamera bewegt sich zum ersten Mal nach einer Stunde; eher aus Notwendigkeit, denn einer tröstlichen kinetischen Energie folgend.

Früher hätte ein Festival einen solchen Film ins Programm genommen, weil es die Provokation suchte. Als Tsai Ming-Liangs „Der Fluss“ 1997 im Wettbewerb der Berlinale lief, waren es nicht nur das Tabuthema des Inzest, den Vater und Sohn am Ende vollziehen, sowie die Atmosphäre uneingeschränkter Hoffnungslosigkeit, die das Publikum verstörten. Das lag wesentlich auch am quälend getragenen Rhythmus, der seinerzeit herkömmlicher Sehgewohnheiten spottete. Letztere haben sich seither geändert, und ersterer ist mittlerweile ein wenig banal geworden. Heute darf ein Film wie „Days“, ohne den Umweg der öffentlichen Empörung (allerdings einhergehend mit einem beträchtlichen Überdruss), grundlegende Fragen über das Kino aufwerfen: nach Erwartung und Zumutung, nach Aufmerksamkeit und Geduld, nach Legitimität oder Lässlichkeit erzählerischer Abkürzungen.

Inzwischen herrscht noch größere Ereignislosigkeit bei Tsai Ming-liang, der Zeitfluss hat sich noch mehr verdickt. Aber beides wirkt nicht mehr so entmutigend wie früher. Gewiss, noch immer lasten Einsamkeit und eine existenzielle Traurigkeit auf seinem filmischen Kosmos. Aber die sanitären Katastrophen, die einst zwischen Jacques Tati und Apokalypse schillerten, scheinen behoben. Und diesmal findet eine erotische Begegnung statt, die glückt, ja ekstatisch ist, und einen hübschen melodischen Nachklang hat. Die Spieluhr, auf der Chaplins „Smile“ erklingt, könnte sich zu einem der unvergesslichen Requisiten im Kosmos dieses Regisseurs mausern.

Wäre „Days“ ein Kurzfilm von 12 Minuten, würde er uns aufgrund seines Mangels an äußerer Handlung langweilen. Mit einer Laufzeit, die zehnmal so lang ist, lässt er Reaktionen zu, die weniger prosaisch sind: Jetzt wird die Form zu seiner zentralen Mitteilung. Das Verstreichen der filmischen Zeit soll erlebt werden; auch als Lebenszeit aller Beteiligten. Der Wechsel zwischen den Sphären der zwei Protagonisten ist ein wichtiges, strukturierendes Element. Darin liegt sogar jene Zielstrebigkeit, von welcher der Regisseur vor15 Jahren sprach: Sie werden sich berühren. Die langen Einstellungen lösen einander ab, ohne dass das Vorangegangene verdrängt oder ausgelöscht würde. Die Tableaus wollen gemustert werden, manchmal enträtselt oder auch nur bestaunt. Das Herzstück von „Days“ ist eine Massage, die in Echtzeit gefilmt ist. Den Gesten bleibt Zeit, sich als heilend oder stimulierend zu entpuppen. Wann hört die Massage auf, Therapie zu sein, wann fängt sie an, ihren erotischen Zweck zu erfüllen? Eigentlich stand dieser von Anfang an fest, aber ihre Doppeldeutigkeit verliert die Sequenz nicht einmal am Schluss. So ist es den ganzen Film über: Die Dinge verwandeln sich vor unseren Augen in das, was sie sind.

 

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