170, Boulevard de Magenta

Kreuzungen sind Kinoorte par excellence. Sie lassen gleich vier gegenüberliegende Blickwinkel zu. Krimis und Thrillern bieten sie besondere strategische Möglichkeiten, da der Verkehr sich als Hindernis in den Weg stellt. Beides will »Eine Frau mit berauschenden Eigenschaften« passagenweise sein.

An der Barbès-Kreuzung soll im letzten Drittel des Films eine Geldübergabe stattfinden. Isabelle Huppert wartet am Eingang eines Gebäudes im neuägyptischen Stil auf die zwei dilettierenden Dealer, mit denen sie seit einiger Zeit Geschäfte macht. Wenige Augenblicke zuvor ist sie ihren Kollegen von der Drogenbrigade im Kaufhaus Tati entwischt, das auf der anderen Straßenseite liegt. Topographisch ist der Treffpunkt klug gewählt, da die Station Barbès-Rochechouart an der Hochbahnlinie 2 einen massigen Sichtschutz bietet. Allerdings sind allerorten Überwachungskameras installiert. Unter ihrer Dejellaba und hinter der riesigen Sonnenbrille ist Huppert allerdings schwer zu identifizieren. Ich werde mich fortan an dieser Ort wohl nicht mehr so arglos wie früher bewegen, denn ich wusste nicht, dass Passanten hier so nahtlos observiert werden können.

Huppert alias Madame Ben Barka versteckt sich in der Lobby eines Kinos, das ich an dieser Stelle gelegentlich schon erwähnt habe: "Le Louxor". Es ist einer der wenigen wirklich schönen Filmpaläste in Paris. Seit geraumer Zeit ist es eigentlich mein Lieblingskino. Ich habe es kurz nach seiner Wiedereröffnung vor sieben Jahren entdeckt. Das Filmprogramm ist immer interessant (im Sommer schrieb ich über die Pre-Code-Reihe, die dort lief), und ich kann es fußläufig von der Wohnung meines Pariser Gastgebers erreichen. Früher ging ich häufiger in die zwei Multiplexe von MK2, die in der anderen Richtung an der Metro Stalingrad liegen. Die Strecke ist etwa ebenso lang, aber nicht so schön. Um zum Louxor zu gelangen, überquert man einfach nur die Brücke über die Fernbahnstrecke, die an der Gare du Nord anfängt oder endet. Man kommt am Hopital Lariboisière vorbei, über das schon Emile Zola schrieb. Natürlich kann man auch die nördliche Route durch die Goutte d'or jenseits der Hochbahn nehmen, was ich oft auf dem Rückweg mache. Sie dauert etwas länger, ist aber lebhafter.

Bevor das Louxor wieder öffnete, atmete die Kreuzung von Barbès für mich bereits Filmgeschichte: als Schauplatz in »Die Pforten der Nacht« von Marcel Carné und Jacques Prévert. Alexandre Trauner baute die Metro-Station im Studio nach, was 1946 ziemlich unerhört war. In »Paris s' éveille« von Olivier Assayas kommt Barbès-Rochechouart dann in Echt vor; vielleicht ein Zitat.

Wie der norddeutsche Programmhinweis vor einigen Tagen ist dies wieder eine Geschichte um ein Pariser Kino, das die Tür in ferne Welten öffnet und dessen weitere Existenz sich bürgerschaftlichem Engagement verdankt. Anfang des Jahrtausends schlossen sich einige Nachbarn als "Les Amis du Louxor" zusammen, um das seit Ende der 1980er Jahre leerstehende und verfallende Kino wieder als solches zu beleben. Wegen seiner prunkenden Fassade stand das Gebäude seit 1981 unter Denkmalschutz. Ich glaube, damals gehörte es dem Nachbarn Tati, aber die Kaufhauskette konnte, wollte oder durfte nichts mit diesem Schmuckstück anfangen. Es war ziemlich heruntergekommen, weshalb ich bei früheren Pilgermärschen zur Barbès-Kreuzung auch keine Notiz von ihm nahm.

Das Louxor hat eine bewegte Geschichte, die man auf der Seite der Initiative auch in englischer Sprache nachlesen kann. (https://www.lesamisdulouxor.fr/). Sie hat einen Bildband über die Restaurierung veröffentlicht sowie eine hübsche, kleine Broschüre, die man beide an der Kinokasse erwerben kann. Es gelang ihr, den damaligen Bürgermeister Bernard Delanoe zu überzeugen, die die Immobilie für die Stadt Paris zu erwerben. Liebevoll wurden die Mosaike, Basreliefs, Säulen und weitere Verzierungen restauriert. Die ägyptische Anmutung war aus heutiger Sicht natürlich ein Akt kultureller Aneignung, aus dem Geist von Kolonialismus und Exotismus, zumal sie sich elegant mit Elementen des Art Déco verbindet. Zur Wiedereröffnung 2013 spielte das Kino übrigens eine zentrale Rolle in einem Comic, der von Besatzung und Widerstand handelt. Einer der ersten Gäste, die im Rahmen der neu eingerichteten "Université populaire du cinéma", einer Volksuniversität des Kinos, auftraten war der ehemalige Premierminister Lionel Jospin. Er diskutierte, entspannt, redselig und neugierig, mit dem Publikum über »The Quiet Man« (Der Sieger) von John Ford, den er als Student entdeckt hatte. Ein ehemaliger Trotzkist, der einen Film mit John Wayne verteidigt – wo sonst als hier wäre das möglich?

Seit fast 100 Jahren liegt ein Zauber über diesem Haus, der nicht erloschen ist. Zuvor stand hier am Boulevard de Magenta ein Warenhaus, was eine erfreuliche Umkehrung etwa des bundesdeutschen Kinosterbens der Nachkriegszeit bedeutet. Es wurde 1921 eröffnet, also noch ein Jahr vor Lord Carnarvons und Howard Carters Entdeckung des Grabs von Tut-ench-Amon, das eine wahre Ägyptomanie unter Kinobauern auslöste. Mithin eröffnete auch Sid Grauman sein berühmtes "Egyptian Theatre" in Hollywood erst danach. 1921 war das Louxor noch ein richtiger Palast mit 1200 Plätzen. So groß waren damals noch die cinémas de quartier, in denen aktuelle Filme starteten oder nachgespielt wurden. Zeitweilig gehörte das Kino dem Konzern Pathé, der eigene Produktionen zeigte. Später liefen hier Italowestern. In den 1960er und 70er Jahren fand im Kino jedoch so etwas wie eine De-Kolonialisiernung statt. Damals nannte man das Viertel "Klein Afrika" und die Betreiber stellten sich auf die Wünsche ihres nachbarschaftlichen Publikums ein, das großteils aus dem Maghreb eingewandert war. Sie führten Filme aus dem Nahen und auch Fernen Osten vor und senkten die Preise. Als »Schlacht um Algier« Anfang der 70er von der französischen Zensur endlich freigegeben wurde, sahen sich hier in einer Woche fast 15000 ZuschauerInnen Gillo Pontecorvos Film an. Bei der letzten Vorführung 1983 lief ein indischer Film. Danach beherbergte das Kino unter anderem die größte Schwulendisco Frankreichs. Heute hat es drei Säle, der größte fasst 340 Zuschauer und ist nach Youssef Chahine benannt. Im Café im obersten Stock war ich leider noch nie (es war im Sommer geschlossen), von der Terrasse muss man einen einzigartigen Blick über Montmartre haben.

Angesichts dieser Historie hat es nicht nur eine topographische Triftigkeit, dass sich Isabelle Huppert hier in einem maghrebinischen Kostüm vor ihren Verfolgern versteckt. Das Louxor steht für die Begegnung der Kulturen. Ihr Alias-Name verweist, was keine der geschichtsvergessenen Figuren durchschaut, verweist auf Ben Barka, dessen Entführung bereits eine Rolle in meinem Rabbi-Jacob-Eintrag vom Wochenende spielt. (Sie fand übrigens an einer anderen Pariser Kreuzung statt, in St-Germain, zwischen der "Brasserie Lipp" und »Les Deux Magots«, was in Gérard Ourys Film und davor in Yves Boissets Politthriller „Das Attentat“ präzise rekonstruiert ist.). Ich weiß nicht, ob »Eine Frau mit berauschenden Talenten« auch im Louxor lief, bezweifle es aber. Das Programm ist in der Regel anspruchsvoller; es legt immer wieder einen Schwerpunkt auf Filme aus dem Mittelmeerraum, die es andernorts selten auf die Spielpläne schaffen.

In "Le monde" erschien Ende Juni eine Fotostrecke, wie das Kino sich für das Ende der Ausgangssperre rüstet: https://www.lemonde.fr/cinema/article/2020/06/23/a-paris-le-cinema-le-louxor-se-deconfine_6043889_3476.html. Darin gewinnen Sie einen schönen Eindruck von meinem Lieblingskino gewinnen. In den Monaten seither behauptet es sich besser als viele andere: Es hat nur 30 Prozent seiner üblichen Zuschauerzahlen eingebüßt (im französischen Durchschnitt waren es bisher etwa zwei Drittel, nun aber vermelden die Kinos eine Auslastung von 50 % im Vergleich zum Vorjahr), kann auf ein treues Publikum zählen. Die gerade verfügte Ausgangssperre ab 21 Uhr wird ihm freilich zu schaffen machen. Ich hoffe, es kann dennoch an seinen Plänen für die nächsten Wochen festhalten: Neben Neustarts sollen Retrospektiven von Fritz Lang und Bo Widerberg laufen, nach dem alten cinéphilen Prinzip der Filmklubs, auch Stummfilmkomödien von Buster Keaton sowie Laurel und Hardy mit Musikbegleitung. (https://www.cinemalouxor.fr/films-a-l-affiche/) Die Volksuniversität scheint inzwischen eingeschlafen zu sein. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sie neu zu beleben. Lionel Jospin würde bestimmt gern wiederkommen.

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