Warum Jesus? Warum Marx?

Was damals noch alles möglich war! Die Regisseure nennt Michael Klier oft nur beim Nachnamen, Godard, Straub, Tanner und Co. Es schien ihm damals wohl selbstverständlich, dass alle Fernsehzuschauer wussten, wer gemeint war. Und einmal zeigt er einen langen Ausschnitt aus dem jüngsten Rossellini-Film, der in der BRD noch gar nicht gezeigt worden war, in italienischer Originalfassung und ohne Untertitel!

Schwer zu sagen, ob so viel Zuversicht seinerzeit nicht bereits ein Missverständnis war. In der Nische war sie natürlich berechtigt. Dabei richteten sich die Porträtfilme, die Michael Klier ab den 1970er Jahren für den WDR drehte, nicht nur an Eingeweihte. Er scheute sich nicht, in den Interviews grundlegende Fragen zu stellen, auf die man meist die klügsten Antworten bekommt. So durfte einmal Filmvermittlung im TV stattfinden - in jener Epoche, als es in jedem Bundesland nur drei Programme gab und die Filmredaktion des WDR sich den Ruf erwarb, eine der besten in Europa zu sein. Es ist ein schönes Stück Archäologie, das die Berliner "Brotfabrik" am Donnerstag und Freitag (12. und 13. Dezember) betreibt. An diesen Abenden lebt ein Blick auf das Kino wieder auf, dessen Neugier noch von den Kritikern der "Cahiers" und den Filmemachern der Nouvelle Vague geprägt ist. Als Fernsehformat heute inexistent, viel zu kühn und eigentlich undenkbar; allein die Länge der Ausschnitte würde immense Rechteprobleme nach sich ziehen.

Ich kenne Michael Klier schon eine ganze Weile. Er war der Nachbar, mehr oder weniger, von Michael Esser, der mir unter den Lehrbeauftragten bei den Theaterwissenschaften der liebste war und leider der Filmkritik abhanden gekommen ist. Eines Nachmittags, als Michael (E.) einige seiner ehemaligen Studenten zum Kaffee eingeladen hatte, war Michael (K.) einfach da. Für uns verkörperte er eine frühere Generation der Cinéphilie, war ein Pionier, ein Bindeglied, dem wir gern zuhörten. Ich glaube, wir alle kannten »Ostkreuz« und "Überall ist es besser, wo wir nicht sind" (immer noch einer der besten deutschen Filmtitel), aber Ehrfurcht musste nicht im Raum stehen.

Wir verloren uns danach nicht ganz aus den Augen. Er half mir, Kontakt mit der französischen Kamerafrau Caroline Champetier aufzunehmen, die er schon einmal für den WDR porträtiert hatte (zusammen mit Sophie Maintigneux: »Die kleinen Schwestern der Nouvelle Vague«), und über die ich eine Sendung drehen wollte. Ein paar Jahre später trafen wir uns in einem Café wieder. Zufällig hatte er die Zeitung unter den Arm geklemmt, in der meine Rezension zu "Heidi M". erschienen war. Ich fand, dass der Film besser war, solange er in Berlin blieb. Das war ein Anfang.

Seitdem wir uns besser kennen, habe ich keinen seiner aktuellen Filme mehr besprochen. Vermutlich versteht er das.Ich bewundere seine Schaulust, es freut mich immer, wenn er anruft, weil er Filme von dem und dem Regisseur oder aus dem und dem Land sucht: nicht nur zur Vorbereitung seines nächsten Projekts, sondern weil er unbedingt wissen will, was an Neuem im Kino passiert. Wir schätzen das Urteil des anderen. Ich kenne einige seiner Zweifel, er kennt einige von meinen.

Als er seine Porträtfilme drehte, war er schon ein gestandener Kurzfilmregisseur. Die Arbeit für den WDR war eine neue Disziplin, in der er sich versuchte. Zwei der Filme habe ich seinerzeit gesehen, über (Francois) Truffaut sowie über den Kameramann (Henri) Alekan. Heute blicke ich mit anderen Augen auf sie - weil ich selbst ähnliche Porträts für den WDR gedreht habe (jedoch ganz anders) und natürlich, weil ich den Menschen kenne, der sie gemacht hat. Andererseits auch wieder nicht: Ich war verblüfft, wie fließend er Italienisch spricht, das habe ich erst bei seinen Fragen an Rossellini entdeckt.

Womöglich waren die somit gemischten Gefühlen, mit denen ich sie nun sah, keine schlechte Voraussetzung. Eine Zeitreise war es ja ohnehin. Die Dramaturgie der Sendungen und Magazinbeiträge ("Film aktuell", "Kino 76/ 78/81" etc.) war mir fremd: lange Ausschnitte, in denen dann gleich schon über andere Filme gesprochen wird; einen Beitrag mit einer Schlussszene und dem Endtitel zu beginnen; am Ende dann noch rasch das Thema zu wechseln, um eine Karriere zu resümieren oder auf den nächsten Film des jeweiligen Künstlers hinzuweisen. Das war unorthodox,gehorchte einer anderen Intuition. Die Filmausschnitte mussten nicht aufs Stichwort gehorchen, sie illustrierten nicht bloß das Gesagte, sondern durften ihr Eigenleben haben. Michaels Verlangen, aus erster Hand etwas über das Kino zu erfahren, ist in jedem Beitrag zu spüren.

Rossellini hat er in jener Phase getroffen, als dieser sich längst vom Kino verabschiedet hatte, um pädagogische Filme fürs Fernsehen zu machen (und dabei wohl noch etwas vom Neorealismus hinüberzuretten in die Gegenwart). Diese Phase hatte mich nie interessiert, aber Rossellini steht lebhaft für sie ein und weiß eine tolle Begründung zu liefern, weshalb er sich nun mit Marx und dem Messias beschäftigt. In der Sendung über "Godards Kameramänner" geht es im Gegenzug um einen Regisseur, der nach acht Jahren zum Kino zurückkehrt. Godard selbst hat zum Glück keinen Auftritt, dafür erzählen Renato Berta und William Lubtschansky eindrücklich von den Psychodramen, die sich auf dem Set abspielten und reden scharfsinnig über die stilistischen Entscheidungen, die dennoch getroffen wurden. Auch in »Truffaut und die Frauen« kommt zunächst eine Mitarbeiterin zu Wort (ich nehme an, es ist die unverzichtbare Suzanne Schiffman, konnte aber keine Bauchbinde entdecken, die sie identifiziert). Was Truffaut selbst über "die Frauen" sagt, mag im Licht aktueller Debatten überholt erscheinen. Aber sein Diktum "In der Welt der Gefühle sind die Frauen professioneller und die Männer Amateure" machte heute noch einen so starken Eindruck auf mich wie 1978.

"Licht von Alekan – für Coctean und Wenders" erwischte mich auf dem falschen Fuß. Das war mir anfangs zu sehr von der Regie her gedacht: Warum soll ich zuerst Wim Wenders zuhören, der mit seinem gewohnten, lasziven Pathos über Bilder und Sehen spricht und nichts Präzises über den Stil des Kameramannes von »Der Himmel über Berlin« zu sagen hat? (Es geht viel um Temperamente, Arbeitsmentalitäten, Haltungen in Michaels Porträts.) Lebendiger wird es, als Alekan selbst zu Wort kommt; vor allem, wenn er über »La belle et la bete« von Jean Cocteau spricht. Unglaublich, was da alles über Komposition, das Licht und seine Nuancen zu erfahren ist! Der Einfluss der Malerei spielt eingangs eine wichtige Rolle, die Radierungen von Gustave Doré und die starken Kontraste bei Caravaggio. Aber kostbarer ist, was er über seine eigene Lichtgebung sagt, die unterschiedlichen Stärken der Scheinwerfer, ihre Ausrichtung, ihre Haupt- und Nebeneffekte, die Schatten, die sie werfen. Nie werde ich die Finger Alekans vergessen, die zielstrebig über Drucke und Szenenfotos gleiten und zeigen, wie aus Technik plötzlich Magie wird. Eine echte Schule des Sehens.

 

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