Ein Sequel

Benoit Jacquot war eigentlich der unwahrscheinlichste Kandidat für ein solches Nachspiel. Aber zu den vornehmsten Tugenden unseres Traumverhaltens zählt ja dessen Unberechenbarkeit. So kam es auf verschlungenen Wegen dazu, dass der Regisseur von »Das einsame Mädchen« und »Leb wohl, meine Königin« die Hauptrolle in einem verwunderlichen Traum spielte.

Am Abend zuvor hatte ich einigen Spott geerntet, als ich mein altes, zerfleddertes Adressbuch hervorholte, um eine Telefonnummer zu suchen. In der Tat macht es einen erbarmungswürdigen Eindruck: Der Einband ist längst dahin, viele Seiten haben sich herausgelöst und das Alphabet ist dementsprechend durcheinander geraten. Ich habe ein neueres, intaktes. Aber an diesem halte ich aus sentimentalen Erwägungen fest, vielleicht auch zum Zweck nostalgischer Prahlerei. Es sind so viele Verstorbene darin verzeichnet. Natürlich muss ich bei solchen Gelegenheiten an Truffaut denken, der einmal bemerkte, dass man von einem gewissen Alter an mehr Tote als Lebende kennt. Ich las ein paar Namen vor, allesamt Filmleute, mit denen ich zu tun gehabt hatte. Da vor allem die ersten Seiten lose sind, war ich rasch beim Buchstaben J angelangt, wo mir Jacquots Telefonnummer ins Auge fiel. Der wenigstens lebt noch, dachte ich.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, staunte ich nicht schlecht über das, was ich mir zusammen geträumt hatte. Andererseits war der Traum nicht ganz so überraschend, denn oft treiben mich im Schlaf lose Enden um. Dieser Traum hat eine unerledigte Vorgeschichte, von der ich nicht wusste, dass sie so tiefen Eindruck in meinem Unbewussten hinterlassen hat. Also ist zunächst einmal eine Rückblende vonnöten.

Anfang April war ich Benoit Jacquot in Paris bei einer Podiumsdiskussion begegnet, die mein Freund Binh mit einigen seiner Studenten bestritt. Ihr Seminarthema war das Verhältnis von Theater und Film. Dafür war er eine Idealbesetzung. Die Veranstaltung fand in einem Saal der Nationalbibliothek im 13. Arrondissement statt und war generalstabsmäßig organisiert. Ein Chauffeur brachte Jacquot zum Eingang, wo mein Freund ihn empfangen und sodann in eine Garderobe bringen sollte, in der ein kurzes Vorgespräch stattfand und hinterher ein Glas Champagner serviert wurde. Jacquots Terminplan war eng, unmittelbar danach musste ihn der Chauffeur nach Beaune fahren, wo er der Jury des diesjährigen Kriminalfilmfestivals vorsaß. (Hierfür war er indes eine merkwürdige Besetzung, da er noch nie einen waschechten Krimi gedreht hat.) Während wir warteten, diskutierten Binh und ich ein Thema, das schon einmal bei einer früheren Begegnung mit Jacquot auf den Plan getreten war: Ob wir Regisseure, die wir gut kennen, eigentlich duzen? Wir stimmten überein, dass sich das nur in Ausnahmefällen schickt. Wir waren uns auch einig, wie schön die Kombination von Vornamen und der Anrede "Sie" ist.

Monsieur Benoit kam pünktlich und in guter Stimmung. Gleich nach der Begrüßung jedoch beging ich einen Fauxpas: Intuitiv griff ich nach seinem Koffer, um ihn die Treppe herunterzutragen. "Das ist nicht nötig", erwiderte er, ebenso erstaunt wie pikiert. Keine Ahnung, was in mich gefahren war; er ist kaum 15 Jahre älter als ich. Als wir vor der Sicherheitschleuse warten mussten - Pariser Kulturinstitutionen werden seit vier Jahren energisch geschützt -, versuchte ich, die Scharte wieder auszuwetzen. Ich sei sehr gespannt auf seinen neuesten Film »Dernier Amour«, über den ich viel Gutes gehört hatte und wolle ihn unbedingt am nächsten Tag sehen (was ich auch tat - er ist vorzüglich, sein bester seit »3 Herzen«, dringend sollte ein deutscher Verleih von ihm Notiz nehmen). Der Koffer erwies sich in der Zwischenzeit erneut als Problem, denn der Sicherheitsbeamte wollte Jacquot nicht mit ihm passieren lassen. Rasch wurde ein Verantwortlicher per Walkie-Talkie hinzugerufen. Ich ergriff die Gelegenheit, ihm eine Frage zu stellen, die mir seit Jahrzehnten unter den Nägeln brannte. In einem Interview mit den "Cahiers du cinéma" hatte er anlässlich des Starts von »Der siebte Himmel« von seiner "Moonfleet"-Seite gesprochen. Darauf konnte ich mir partout keinen Reim machen, obwohl ich Fritz Langs Verfilmung »Das Schloss im Schatten« mehrmals gesehen und erst unlängst den Roman von J. Meade Falkner gelesen hatte. Der inzwischen ungeduldig gewordene Regisseur hatte auch keine Ahnung, was er damit gemeint hatte, ich müsste ihm schon den genauen Kontext nennen, in dem er das vor mehr als 20 Jahre gesagt habe. Stattdessen wollte er von mir wissen, wie ich denn »Paranza – Der Clan der Kinder« fände, der jetzt gerade als Eröffnungsfilm in Beaune lief. Ich hatte keine rechte Meinung zu ihm, räumte nur ein, dass ich die Verleihung des Drehbuchpreises auf der Berlinale eher als politische denn als künstlerische Entscheidung empfand. Er reagierte mit dem für ihn typischen "Ah bon?", hakte aber nach; er war offensichtlich enttäuscht, dass ich als Kritiker keine eindeutigere Position bezog. Es stellte sich heraus, dass er den Film schon gesehen hatte – er war ihm am Vormittag vorgeführt worden – und sich wohl für Jurysitzungen mit Argumenten rüsten wollte. (Die Saviano-Verfilmung gewann immerhin den zweiten Preis. Sie startet in dieser Woche, was aber bestimmt kein Auslöser meines Traums ist.)

Die Diskussion verlief prächtig. Die Studenten waren hervorragend vorbereitet, hatten sich kluge Fragen überlegt und eine exzellente Auswahl an Filmausschnitten getroffen. Ich bekam neue Einblicke in Jacquots Werk, vor allem in sein frühes Schaffen, wo seine Beschäftigung mit der Bühne fast noch intensiver ist. Bis dahin kannte ich nur je einen Spielfilm, eine TV-Aufzeichnung und seine Inszenierung von Massenets Oper "Werther", von der es eine schöne deutsche DVD-Edition gibt. Die Fragen regten ihn sichtlich an, er war in seinem Element. Fragen aus dem Publikum kamen eher spärlich, aber kenntnisreich. Als die Diskussion vorbei war, verstrickte ihn eine junge Frau, zweifellos eine hoffnungsfrohe Schauspielerin, in ein Gespräch, auf das er sich geduldig einließ. Beim Champagner setzte sich die Diskussion noch einmal lebhaft fort. Ich sah, dass die Studenten ihre Einleitungen und Fragen auf Papier ausgearbeitet hatten und bat sie um ein Exemplar. Vor seiner Abfahrt nahm Monsieur Benoit mich kurz beiseite und flüsterte: "Damit haben Sie den Studenten eine große Freude gemacht; es hätte eigentlich auch mir einfallen müssen." Auch Binh war höchst zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Abends; auch mit dem Restaurant in der Nachbarschaft, in das wir anschließend gingen, hatte er eine gute Wahl getroffen.

Die Akribie, mit der mein Traum nun Monate später an das Treffen anschloss, erstaunt mich jetzt noch. Wieder begegneten Jacquot und ich uns bei einer Veranstaltung, die an einem Ort stattfand, der mich einerseits an die Lobby des MK2-Multiplexes erinnerte, der neben der Nationalbibliothek liegt, und zugleich an den ersten Stock der Deutschen Oper in Berlin. Wie es mich dorthin verschlagen hatte, war mir ein Rätsel, aber dergleichen tut im Traum ja nichts zur Sache. Es herrschte jedenfalls drangvolle Enge. Bevor Jacquot zu mir herüber kam, war er wiederum ins Gespräch mit einer jungen Frau, die eindringliche Bitten an ihn richtete. "Ich frage mich," sagte er lächelnd zur Begrüßung, "ob es nicht ein schlechtes Zeichen wäre, wenn ich irgendwann nicht mehr so behelligt würde." Er sprach Deutsch in meinem Traum. Wieder wartete ein Chauffeur auf ihn und wieder hatte er einen Koffer dabei. "Sie wissen ja", wehrte er ein etwaiges Ansinnen meinerseits ab, "dass ich immer mit leichtem Gepäck reise." Diesmal wollte er in die Dordogne reisen, wo er jetzt auf einem Hausboot lebte. Diese Neuigkeit verblüffte mich, einen solchen Ortswechsel konnte ich mir bei einem Stadtmenschen wie ihm nun gar nicht vorstellen. Es herrschte eine stille Übereinkunft, dass ich Jacquot zum Bahnhof begleiten würde. Der Fahrer kutschierte uns durch ein Paris, dessen Topographie so fiktiv war, wie es in manchen Filmen der Fall ist. Irgendwann passierten wir den Invalidendom, der eigentlich nicht auf unserer Strecke lag. Jetzt war schon Herbst, und die Nacht hatte sich bereits über die Stadt gelegt.

Der Bahnhof lag kurioserweise in St. Germain. Da noch ein wenig Zeit bis zu seiner Abfahrt war, schlug ich vor, in ein Hotel zu gehen, von dem ich sicher war, dass wir uns dort schon einmal zu einem Interview getroffen hatten, "La Lousiane". Das bestritt er entschieden: "Nein, Sie sind hier früher häufiger abgestiegen, weil es ein Schauplatz aus 'Um Mitternacht' von Tavernier ist." Woher er das wissen konnte, war mir schleierhaft, aber da wir uns in einem Traum befanden, nahm ich es als selbstverständlich hin. Das Zimmer war so dunkel wie ein Kinosaal in diesem Viertel. "Sie hatten beim letzten Mal doch noch eine Frage," sagte Jacquot, nachdem wir Platz genommen hatten. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich die "Cahiers" mit dem Interview zu »Der siebte Himmel« nicht dabei hatte. Dann wachte ich auf. Es war hell, und immer noch Sommer.

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