Wohl und Wehe der Vielfalt

Gelegentlich habe ich das Glück, von einem Text mehrere Versionen verfassen zu können. Nicht nur der Anstand verbietet es, an unterschiedlichen Medien und in andere deutschsprachige Länder den exakt gleichen Artikel zu verkaufen. In Zeiten des Internets könnten solche Dopplungen den Redaktionen womöglich auffallen und sie verdrießen.

Die Variation bereitet mir freilich auch Lust. Ich kann den Blickwinkel wechseln und andere Gewichtungen vornehmen. Meist gibt es stilistisch jede Menge nachzubessern. In der zweiten Variante kann ich Passagen verdichten, die dritte wird oft noch besser, weil ich mich freier fühle gegenüber dem Gegenstand. Bei der vierten lässt in der Regel der Elan bedrohlich nach. Regelmäßig geschieht es jedoch, dass ich einen Aspekt partout in keiner Fassung unterbringen kann. Der wird in der Folge in meinem Denken immer wichtiger und unverzichtbarer. Tatsächlich könnte er ganz unbedeutend sein.

In den letzten Tagen ist mir das wieder passiert, als ich zwei Kritiken über die zauberhafte Ausstellung schrieb, die im Pariser Grand Palais den Brüdern Lumière zur Feier des 120. Jubiläums ihrer großen Erfindung gewidmet ist. Wieder und wieder wollte ich darauf hinweisen, dass sie ihren "Cinématographe" im gleichen Jahr erfanden, in dem H.G. Wells seinen Roman "Die Zeitmaschine" veröffentlichte. Welche assoziativen Möglichkeiten hätte das noch eröffnet? Ich hoffe, die Zukunftstrunkenheit der Brüder und ihrer Epoche teilt sich dennoch mit. Aber nun, da es gesagt ist, kann es auch gut sein mit dieser Idee.

Die Filme der Lumières verbreiteten sich seinerzeit in rasantem Tempo in aller Welt. In London wurden eigene Kinos für sie eingerichtet. Das älteste von ihnen, das 1896 eröffnete Regent Street Theatre, wird gerade nach einer drei Jahre dauernden, kostspieligen Renovierung wiedereröffnet. Zuvor war es 35 Jahre geschlossen. (Ganz ähnlich verhält es sich mit dem 1899 erbauten Eden in französischen La Ciotat, das vor zwei Jahren in neuem Glanz wiederauferstand, sich nun aber nicht mehr das älteste Kino der Welt nennen darf.) Wie das zukünftige Programm des Regent aussehen wird, war aus der britischen Presse noch nicht recht zu erfahren. An Auswahl wird es nicht mangeln, wie vor ein paar Tagen einem Hilferuf des British Film Institute zu entnehmen war. In der letzten Woche liefen im Vereinigten Königreich sage und schreibe 23 neue Filme an. Das ist ein Rekord (sonst sind es höchstens 13) und lässt auf eine lebendige Vielfalt schließen. Die Anzahl der Filmstarts habe sich in der letzten Dekade von 300 auf 700 erhöht, meldete das Filminstitut. Das seien einfach zu viele, klagte Ben Roberts, der Direktor des Filmfund im BFI. Die Menge würde die Sichtbarkeit der einzelnen Filme verringern, sie hätten kaum noch die Möglichkeit, von Mundpropaganda zu profitieren, um länger im Programm zu bleiben. Um den Verdrängungsprozess einzudämmen, müssten sich die Verleiher überlegen, ob sie nicht auf andere Plattformen wie Video on demand auszuweichen wollten. So schnell kann aus einer guten Nachricht eine schlechte werden.

Aber diese Vielzahl bedeutet natürlich auch einen härteren Kampf um Aufmerksamkeit. Bevor ihre Trailer im Internet den Filmen vorauseilten, stellten in der Regel Plakate den ersten Kontakt des Zuschauers mit ihnen dar. Das bringt mich wieder auf die Lumières. Eine weitere Unterlassungssünde in meinen Ausstellungskritiken ist die Beschäftigung mit dem ersten Plakat der Filmgeschichte, das Henri Brispot zeichnete. Es zeigt den Vorraum eines Kinosaals, über dem der Schriftzug "Cinématographe Lumière" prangt und in dem sich ein bunter Querschnitt der Gesellschaft versammelt hat. In der ersten Reihe sind ein händeringend mit einem Pfarrer diskutierender Militäroffizier sowie ein neben der Soutane vorbei lugender Junge zu sehen. Dahinter drängt sich ein Tumult von Zylinderträgern und eleganten Damen. Das Kinopublikum erscheint als eine repräsentative Gemeinschaft, in die sich die Autoritäten einträchtig fügen. Es versammelt sich in Erwartung eines Ereignisses, das allen zugänglich ist und den Segen von weltlicher und kirchlicher Macht genießt. Ein einzelner Film wird nicht annonciert, sondern Propaganda gemacht für das Kino als Ganzes.

Diese Unteilbarkeit existiert selbstredend nicht mehr. Heute musst jeder einzelne Film das für ihn passende Publikum finden. Zu den Verdrießlichkeiten vieler Filmplakate gehört das Zitieren enthusiastischer Kritikerstimmen. Ich bezweifle, ob sie dem Zuschauer tatsächlich als Orientierungshilfe dienen. Meist sind sie so großsprecherisch, dass ihnen niemand Glauben schenkt. Sie übergießen den Film mit einer Kaskade der Superlative, der ihn sogleich hinweg spült. Zwei französische Internet-Grafiker sind unlängst zum Gegenangriff angetreten. Statt Elogen drucken sie auf ihrer Seite "On s'tape l'affiche" (ich weiß auch nicht, wie sich das am besten übersetzen lässt, vielleicht mit "sich das Plakat reinziehen", kann Ihnen dafür aber die Adresse mitteilen) üble Verrisse. Zu Inherent Vice etwa finden sich die Zitate "Unverständlich" und "Selbst Erwachsene schlafen dabei ein" und zu Terrence Malicks To the Wonder Urteile wie "Ein endloser Clip" und "Ohne jeden Zauber". Das jüngste Sequel von Die Hard nutzt ein Journalist als Epitaph auf das Franchise, das er gern begraben sähe: "RIP John McClane". Das sind beileibe keine Glanzstücke der Filmkritik. Aber sie bringen einen zumindest mal auf andere Gedanken.

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