Verschlüsselt

Es ist gut möglich, dass Kurorte einmal die letzten Glieder in der Verwertungskette waren. An welch anderen Ort könnten Filme ein solch geruhsames Nachleben führen? Über das Sehverhalten von Kurgästen ist leider wenig bekannt. Wie gut verdaulich musste die Kost sein, die vorgesetzt wurde, nachdem sie die verschriebenen Anwendungen und das rituelle Kuchenessen erfolgreich hinter sich gebracht hatten? Dank der Knauserigkeit der Krankenkassen ist dies freilich zu einem höchst marginalen Forschungsgebiet geworden.

Vermutlich wurden hauptsächlich Filme vorgeführt, die beim Publikum heitere Kinoerinnerungen wachriefen und ihnen ein behagliches Gefühl biographischer Kontinuität bescherten. Das Laufgeräusch der Projektoren im Kursaal störte dabei sicher kaum jemanden. Ideal war es natürlich, wenn das Programm einen thematischen Bezug aufwies. Als ich einmal meine Mutter in der Kur besuchte, erblickte ich das Plakat eines Films, der diese Bestimmung schon in seinem Titel trug: Dr. med Fabian – Lachen ist die beste Medizin mit Hans-Joachim Kulenkampff. Wer weiß, vielleicht machte der Jahrzehnte nach Ende seiner kommerziellen Karriere bei diesen Gelegenheiten noch einmal ordentlich Kasse und trug gleichzeitig zu manchem Heilerfolg bei.

Gestern entdeckte ich bei einer Stippvisite in Binz auf Rügen, dass Filmabende an Kurorten noch nicht gänzlich verschwunden sind, sondern weiter wesen als stolzer Anachronismus. Auf der Strandpromenade wurde, neben Liederabenden, Ausflügen und einer voraussichtlich launigen Erich-Kästner-Lesung, eine Filmvorführung zu freiem Eintritt für den 2. April annonciert: "Zu sehen ist eine Tragikomödie/ Thriller (USA 2014, ca. 135 Minuten). Einzelheiten zum Film erfahren Sie im Haus des Gastes." Dieser kuriose Wortlaut intrigierte mich. War das nun eine besonders unbeholfene oder aber raffinierte Form des Marketing? Sollte das schon genügen, um das Publikum in Scharen anzulocken? Gemeinhin verkauft man Filme schließlich mit ihrem Titel und den Stars, die in ihnen mitwirken. Und selbst in der Nebensaison wächst solch einer Veranstaltung doch bestimmt Konkurrenz durch diverse Geselligkeiten oder kulinarische Genüsse zu. Das Hotel, in dem mein Vater abgestiegen ist, bietet mehr als 150 Fernsehprogramme an. Außerdem stellte sich die Frage, was zuerst da war, der Film oder seine Beschreibung? Sollte die Kurverwaltung womöglich reihum bei Verleihern angefragt haben, ob sie einen Film im Angebot hätten, dessen Genre, Länge und Produktionsjahr nämlichen Kriterien entsprachen?

Um welchen Film es sich handelte, war klar: American Hustle – wobei mir eher die 135 Minuten den entscheidenderen Hinweis gaben als die Genre-Zuschreibung (obwohl die ja nicht mal verkehrt ist). Aber die Sache ließ mir keine Ruhe. In der Nacht träumte ich von dem Film. So prosaisch kann die Verbindung zwischen Traumgeschehen und Alltag sein! Ich bin selbst erstaunt, wie viel Naheliegendes mir nachts so durch den Kopf geht: Steuererklärungen, blamable Texte, dringende Abgabetermine, die ich in Wirklichkeit schon vor Monaten erfüllt habe. Vor schwierigen Artikeln träume ich bisweilen von Mathematikklausuren. Aber so viel sollte ich Ihnen vielleicht gar nicht von mir verraten.

In meinem Traum lief American Hustle nicht im Haus der Kurverwaltung, sondern in einem Multiplex. Dessen Architektur kam mir ziemlich bizarr vor, denn die Säle waren nicht durch Wände voneinander getrennt. Den Ton der anderen Vorstellungen hörte man jedoch nicht. Mein Film lief in einer Art frei schwebendem Rang. Allmählich wird der Traum interessant, nicht wahr? Ich hatte den Anfang verpasst. Anscheinend gab es dennoch genügend freie Plätze. Aber wohin auch immer ich mich setzen wollte, wurde meine Sicht durch eine Säule versperrt. Es half nichts, ich musste mich, zum Leidwesen der anderen Besucher, ständig umsetzen. Einer knurrte: "Sie glauben wohl, als Kritiker können Sie sich alles erlauben?" Ich war heilfroh, bald wieder aufzuwachen. Andererseits: Das war mal ein Traum, den zu deuten wirklich Spaß machen könnte.

Gleichviel, nach dem Frühstück machten wir uns unverzüglich auf den Weg zur Kurverwaltung. Nein, ich sei nicht der Erste, der sich nach dem Film erkundigte, erklärte mir ein hilfsbereiter Angestellter. Und es gebe einen einfachen juristischen Grund, weshalb man nicht mit dem Filmtitel werben könne: Da der Eintritt frei sei, dürfe der Filmtitel nicht öffentlich genannt werden. Auf die Frage, wie gut diese geheimnisumwitterten Vorstellungen üblicherweise besucht seien, gab er mir eine Antwort, die aus dem Mund jedes Kinobesitzers der Welt stammen könnte: "Das hängt vom Wetter ab."

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