Inflationsunbereinigt

Drei Nachrichten weckten in der letzten Woche mein besonderes Interesse. Zum einen las ich, dass ein vergessener, verloren geglaubter Dokumentarfilm von Sydney Pollack im September auf dem Festival von Toronto seine späte Premiere erleben wird. »Amazing Grace« dokumentiert die Aufnahmen zu Aretha Franklins gleichnamigem Gospel-Album in einer Baptisten-Kirche in Los Angeles an zwei Abenden im Januar 1972. Das gedrehte Material wurde zu Pollacks Lebzeiten aber nie montiert, da Warner Brothers das Projekt rasch begrub. Ursprünglich war offenbar geplant, den Film als Double Feature zusammen mit dem Blaxploitationfilm »Superfly« herauszubringen. (Das wäre ein irre Kombination geworden, aber zugleich ein fabelhaftes Soul-Gipfeltreffen: Aretha und Curtis Mayfield an einem Abend!) Anscheinend war es schwierig, die Genehmigung Franklins zu bekommen, die Aufnahmen zu verwenden. Der Trailer zu »Amazing Grace« weckt jedenfalls den Eindruck, dass ihr Konzert eine ziemlich mitreißende Angelegenheit gewesen sein muss. 

Die zweite Nachricht scheint auf Anhieb rein gar nichts damit zu tun zu haben (die dritte erst recht nicht, weshalb ich sie mir für eine spätere Gelegenheit aufspare). Allerdings hat auch sie mit dem Rückblick in die 70er und dem Ausblick auf einen unaufhaltsam näher kommenden Filmstart zu tun. Der "Guardian" meldete, dass für das Startwochenende der neuen »Star Wars«-Episode ein Einspiel von weltweit 615 Millionen Dollar erwartet wird. Damit würde »The Force Awakens« den bisherigen Rekord von »Jurassic World« noch um rund 90 Millionen überbieten. Es ist mir schleierhaft, wie es zu solchen Summen kommen kann. (und wer kann sie so genau berechnen? Warum 615 und nicht 600, 620 oder 650?). Die erwachende Macht sei  auf dem Weg zu einem Gesamteinspiel von etwa 2 Milliarden, was bedeutet, dass er rund ein Drittel seiner Zuschauer bereits in der ersten Woche finden muss. Vor schlechter Mundpropaganda oder schlechten Kritiken muss sich bei diesem Tempo keiner der Produzenten fürchten. Der Erfolg ist also eine ausgemachte Sache. Einzig der Umstand, dass China in der Startwoche als lukratives Territorium nicht zur Verfügung steht, da dort der Dezember wieder eine black out period ist, in der keine ausländischen Produktionen anlaufen dürfen. 

Die angepeilten zwei Milliarden entsprechen inflationsbereinigt in etwa den weltweiten Einnahmen von »Der weiße Hai« bei seiner Erstauswertung in den Jahren 1975 und 1976. Womit wir wieder in der großen Zeit Sydney Pollacks wären. Ihn habe ich bei mehreren Gelegenheiten als weitblickenden Künstler und Geschäftsmann kennengelernt. Mit Kassenerfolgen war dieser überaus selbstbewusste, pragmatische Zweifler vertraut, sogar in Blockbuster-Dimensionen. Ganz geheuer waren ihm die Verwerfungen im Hollywoodgeschäft aber nicht. Mir geht seit einigen Tagen ein Gruppeninterview in Deauville durch den Kopf, wo er 1993 »Die Firma« vorstellte. Der erschien mir immer eher als der Film eines Produzenten als der eines Regisseurs (wenngleich mich eine Aussage seines Stars Tom Cruise bei der späteren Pressekonferenz nachhaltig beeindruckte: Man sähe sofort, dass dies ein Pollack-Film sei, denn wer sonst käme heute auf die Idee, eine Verfolgungsjagd zu Fuß zu drehen?). Zum Interview erschien Pollack ziemlich übermüdet, er streckte seine Glieder und begrüßte uns mit einem augenzwinkernd entschuldigten Gähnen. Er kam gerade aus Japan, das damals der zweitwichtigste Auslandsmarkt für Hollywood war (seine Worte klingen mir noch in den Ohren, als sei es gestern gewesen: »Small country, but a lot of people there.«). Als es um die sich radikal verändernde Ökonomie des Filmgeschäfts ging, war er wieder hellwach. »You used to be a hero when your film made 30 Million«, erinnerte er sich nicht ohne Nostalgie. Als er 2008 starb, war das noch zu früh, um den neuen Quantensprung mitzuerleben, dem zu Folge nun Milliarden zum Maßstab des Erfolgs wurden. Vorausgeahnt hätte er so etwas vielleicht. Wenn sein Dokumentarfilm heute 30 Millionen einspielte, würde er wohl postum zu einem Helden.

PS: Heute, am 5. September, meldet der "Hollywood Reporter", dass ein Richter in Colorado die Vorführungen von "Amazing Grace" auf den Festivals von Telluride und Toronto untersagt hat. Die Produzenten hatten es versäumt, die Erlaubnis von Aretha Franklin einzuholen. Die Sängerin hat nun gegen die Vorführung des Films geklagt, da sie ihre Urheberrechte verletzt sieht.       

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