Die Kunst des Kontextes

Hat der Schein im Kino je eine andere Aufgabe, als zu trügen? Wenn man Filmkritikern Glauben schenkt, nein. Die sind meist mächtig fasziniert davon, wie die Bilder ihr Publikum hinters Licht führen und wähnen sich als eingeweihte Komplizen des Streichs, der da gespielt wird.

Dabei täuscht uns die Wahrnehmung in der Realität ja schon genug. Und auch unsere Erinnerung ist bestechlich. Das Bild, das wir uns zum Beispiel von vergangenen Epochen machen, täuscht uns oft genug. Die Überlieferung ist parteiisch. Was eine Subkultur war, erklärt sie im Nachhinein bisweilen zum Prägenden, Hauptläufigen. Waren beispielsweise die Londoner Swinging Sixties ein rein mediales Phänomen, das nur eine erschütternd geringe Schnittmenge teilte mit der Lebensrealität Englands? Galt das Versprechen von Aufbruch und reuelosem Hedonismus wirklich flächendeckend? Nicht einmal in Filmkreisen war das Dasein damals nur schwungvoll und lebhaft. Ken Loach etwa wollte es partout nicht gelingen, die 1960er als freudvolle Epoche zu erleben. "Es gab zwar viel Optimismus und Energie", sagte er einmal der BBC, "Aber das Vergnügen, so schien es mir, fand immer in der nächsten Straße statt."

Im England dieser Zeit wirkten mächtige Verharrungskräfte. Immerhin wurde damals nach jeder Vorstellung noch die Nationalhymne gespielt, zu der sich jeder Kinogänger erheben musste. Aber die nächste Straße besaß die größere Strahlkraft. London erschien als eine einzige Propagandamaschine eines neuen, aufregenden Lebensstils. Kaum ein Film wirft einen prüfenderen Blick in deren Getriebe als Michelangelo Antonionis Blow up. Aber er tut es unter Vorbehalt. Nicht ungefähr zeigt das ikonischste Bild des Films den Rausch simulierter Erotik bei einer Fotosession. Illusion und Realität geraten in ihm in einen Widerstreit, den die Schlussszene vorgeblich entscheidet.

Die Ausstellung über Antonionis Klassiker und sein Verhältnis zur Fotografie, die bereits auf ihren ersten Stationen in Wien und Winterthur Furore machte, ist nun in der Galerie C/O im Amerika Haus in Berlin bis zum 10.4. zu sehen. Sie geht weit über ihr Thema hinaus. Sie besichtigt eine Epoche. Das ist unvermeidlich, der Film und die aufgezeigten Kontexte verlangen ganz selbstverständlich danach. Ihr Prinzip ist die Einbettung, wobei Blow up allerdings nie als das filmische Äquivalent eines Mary-Quant-Kleides erscheint. Antonioni erkundete die Stadt mit dem Blick des Fremden, obwohl er sie schon ganz gut kennengelernt hatte, als er ein Jahr zuvor seine Gefährtin Monica Vitti zu den Dreharbeiten für Loseys Modesty Blaise begleitete. In Italien hätte er seinen Film nie drehen können, sagte er, schon aus Zensurgründen. (Die Szene, in den Jane Birkin und eine Freundin nackt um die Aufmerksamkeit des Fotografen David Hemmings buhlen, wirkt für heutige Augen allerdings ziemlich arglos). Italien ist dennoch präsent im Film, der durchaus anknüpft an dem Kampf um die Privatsphäre im öffentlichen Raum, der in Fellinis La Dolce Vita sechs Jahre zuvor ausgetragen wird. (Es ist spricht nichts dagegen, an dieser Stelle noch einmal in meinen Eintrag "Bella Figura" vom 15. 8. zu schauen)

Nach dem Entrée mit klassischen Setfotos von Arthur Evans gelangt der Besucher in den ersten der thematisch geordneten Räume, der dem Voyeurismus gewidmet ist. Die Parksequenz aus Blow up ist zu sehen, umgeben von den Blow ups der Fotos, die Don McCullin geschossen hat. Bilder aus Rear Window und Peeping Tom sind als Gedankenstützen hingetupft. Sodann folgt der Komplex Mode, der um die steril orgiastische Session mit Veruschka und die spätere mit Peggy Moffitt und Co. kreist. Eigentlich müsste hier deutlich werden, wie sehr sich die Modefotografie der 60er sexualisiert und Besitz von der Straße ergreift. Aus heutiger Sicht fällt indes auf, wie sehr die Modelle entkörperlicht werden. Vom verhüllenden Organza-Umhang, den Jill Kennington trägt (oder war es eine ihre Kolleginnen?) ist eine Zeichnung zu sehen. Die Realität urbaner Ambientes haben zwar schon ein Jahrzehnt zuvor Richard Avedon und William Klein in die Modefotografie eingeführt, aber im London der 60er wirkt sie dank Künstlern wie David Bailey noch ein wenig rauer und lebhafter.

Einen spannungsvollen Kontrast bildet dazu die Sozialreportage, an der sich Antonionis Fotograf versucht und die in der Schau durch McCullins Milieustudien und Philip Johns Griffiths' Aufnahmen von Demonstrationen gegen die Atombombe repräsentiert werden. Landet nicht ein "Ban the Bomb!" Flugblatt auf dem Rücksitz des Cabrios von Hemmings? Hier scheinen Gegenbilder zu den unbeschwerten Sixties auf (der Blick auf die Demonstranten wird gebrochen durch missbilligend konservative Betrachter). Beide Fotografen sind bekannt geworden durch ihre hartgesottene und aufklärerische Kriegsberichterstattung, die gleichsam als unsichtbare, aber wuchtige Grundierung fungiert.

Die verschiedenen Genres der Fotografie, die hier in Dialog miteinander gebracht werden, verweisen darauf, aus welch unterschiedlichen Elementen Antonionis Film komponiert ist. Er ist Zeit- und Sittenstudie, eine Reflexion über Bildmedien, das Dokument einer spirituellen Krise (die bei Antonioni ja stets in der Flucht in die Zerstreuung mündet, wofür hier mustergültig, wenn auch etwas demonstrativ die Sprunghaftigkeit der Hemmings-Figur steht) und erzählt Fragmente eines Krimi-Plots. Die Moderne faszinierte den Regisseur nicht zuletzt als eine Ungleichzeitigkeit von Fortschritt und Gefühl.

Noch eine weitere, grundlegende Erkenntnis hält die Ausstellung bereit: dass es für alle Figuren und Motive reale Vorbilder gab. Vom Neorealismus hatte sich Antonioni längst verabschiedet, aber Spurenelemente dieser Erzählhaltung ließen sich nicht ganz tilgen. Dem Film hat das nicht geschadet. Einige seiner Requisiten tauchen in der Schau auf: die erstaunliche Fotografie einer Karawane, die sich als dünner Strich durch ein dominierendes Weiß zieht, sowie ein Gemälde des Nachbarn, das Hemmings gern besitzen würde. Sie werden nicht als Requisiten aufgeboten, oder gar als Fetisch, sondern als Kunstwerke eigenen Rangs. Das wird Antonioni gerecht. Bei ihm gehen die Figuren ein inniges, verstörendes und beinahe magisches Verhältnis mit den Objekte und dem Ambiente ein.

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