Netflix: »The Unforgivable«

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Ohne eine echte Chance

Nach dem Erfolg von »Systemsprenger« war es nicht überraschend, dass Nora Fingscheidt die Regie einer internationalen Produktion angeboten wurde. »The Unforgivable« ist eine Netflix-Koproduktion, und eines muss man den Streamingproduzenten bekanntlich lassen: Sie haben ein Auge für Talente, denen sie verlockende Projekte ermöglichen, gern auch jene Art mittelteurer Filme mit »erwachsenen« Themen, die im traditionellen Studiobetrieb keine große Rolle mehr spielen. 

Fingscheidts »The Unforgivable« wirkt wie ein Musterbeispiel für diese Binsenweisheit. Ein dialogorientierter Film mit sozialdramatischem Thema und ohne herkömmliche Schauwerte, dafür mit einem tollen Ensem­ble, gruppiert um einen ambitioniert aufspielenden Star: Sandra Bullock. Sie verkörpert eine Frau namens Ruth Slater, die 20 Jahre für einen Polizistenmord in Haft saß und nun auf Bewährung freikommt. Trotz guter Vorsätze lässt die Vergangenheit sie nicht los – vor allem wegen der rachsüchtigen Söhne des getöteten Polizisten, die alles daransetzen, ihre neue Existenz zu vernichten, wie auch immer die aussehen mag. Zugleich versucht Ruth, ihre jüngere Schwester aufzuspüren, für die sie ein Mutterersatz war und die nach der Tat zur Adoption freigegeben wurde.

Im ersten Drittel beeindruckt »The Unforgivable« als atmosphärische Milieustudie über ein Justizsystem, das eine »Resozalisierung« nicht fördert, sondern verhindert, weil es ein Leben nur unterhalb der gesellschaftlichen Normen zulässt: Die mittellose Ruth haust in einer Absteige zwischen Dieben und Junkies, findet als Ex-Häftling keine gute Arbeit und hat im Grunde keine Chance. In diesen ersten Szenen mit ihrem rauen Realismus erinnert »The Unforgivable« frappierend an Ulu Grosbards »Stunde der Bewährung« (1978) mit Dustin Hoffman, und man sieht, was Fingscheidt an dem Projekt gereizt haben muss: Ruth ist auf ihre Weise ebenfalls eine »Systemsprengerin«, nur dass nicht das System an ihr, sondern sie am System zu scheitern droht.

Allerdings verlässt das Drehbuch diesen spannenden, zeitgemäßen Pfad und wird zu einer konventionellen, wenig glaubhaften Geschichte um Vergebung und Wiedervereinigung. Es gibt auch eine (vermeintlich) überraschende Enthüllung, und am Ende ist Ruth keine ambivalente Außenseiterin mehr, sondern eine tragische Märtyrerin. Auf dem Weg zu dieser forciert versöhnlichen Auflösung macht das Drehbuch mehrere Nebenhandlungen auf, etwa Ruths Beziehung zu ihrem Anwalt (Vincent D'Onofrio) und einem kumpelhaften Arbeitskollegen (Jon Bernthal), aus denen sich aber nichts entwickelt. Dadurch wirkt auch Bullocks betont unglamouröse Darstellung seltsam »freigestellt« – sie bekommt keinen Resonanzraum für ihre durchaus starke Leistung. »The Unforgivable« basiert auf einer britischen Miniserie, was diese frustrierenden Verkürzungen und Unglaubwürdigkeiten erklären könnte. Besser wird der Film dadurch allerdings nicht.

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