Buch-Tipp: Werner Herzog – Das Dämmern der Welt

Die Ränder der Geschichte

Der Anfang des Buchs, das keine Genrebezeichnung trägt (»viele Details stimmen, viele stimmen nicht«), wäre auch ein passender Auftakt für eine Dokumentation über den Regisseur Werner Herzog. Auf den ersten Seiten beschreibt Herzog eine Szene aus Tokio, wo er 1997 eine Oper inszenierte. Die Mitarbeiter saßen abends in geselliger Runde beisammen – und einer teilte freudig mit, der japanische Kaiser wolle Herzog gern in einer privaten Audienz treffen. Zur großen Bestürzung der Japaner lehnte Herzog ab, wurde aber noch gefragt, ob es einen gebe, den er alternativ gern treffen würde. Die Antwort: Hiroo Onoda. Die Episode sagt viel über Herzogs Arbeiten: Bloß nicht ins Zentrum des Geschehens, lieber in den Ecken herumtreiben, dort lauern nicht nur die besseren, traurigeren, verrückteren Geschichten, von dort aus lässt sich auch der Rest der Welt besser studieren.

Tatsächlich dürfte es in Japan nur wenige geben, die Hiroo Onoda, den Herzog eine Woche später traf, nicht kennen. Onoda war der Offizier der japanischen Armee, der das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mitbekam und bis 1974 auf der philippinischen Insel Lubang auf seinem Posten blieb, in seinem Dschungelversteck bereit, weiterhin sein Land zu verteidigen.

Wie konnte er so lange die Realität ignorieren, wie so lange überleben? Der dschungelkompetente Herzog (Aguirre, Fitzcarraldo) entlockte ihm die Geschichten. Wie sollte der Krieg zu Ende sein, die US-Bomber flogen doch immer weiter! – Später musste man Onoda aufwendig davon überzeugen, dass die Bomber erst nach Korea in den Krieg flogen und dann nach Vietnam. Onodas Dschungelperspektive legt den unangenehmen Gedanken nahe, dass die große Erzählung vom Weltkrieg und einem nachfolgenden langen Frieden problematisch ist – womöglich gibt es nur große und kleine Kriege, die für die Opfer gleich vernichtend sind.

In kurzen Kapiteln rekapituliert Herzog wichtige Episoden von Onodas Kampf. Wie nur gelang es ihm, im feuchten Dschungel die Schneide seines Schwertes scharf zu halten (schwierig), wie in der Einsamkeit in fast 30 Jahren nicht an ein Ende des Krieges zu glauben (eher einfach)? Herzogs Buch ist in all seinen Details spannend, weil es weniger erzählt, was geschah, sondern wie und warum. Und Werner Herzog ist der ungleich bessere Autor als der Romandebütant Quentin Tarantino, der hoffentlich sein Versprechen, nur zehn Filme zu drehen, brechen wird. Von diesen Büchern aber könnte es mehr geben.

 


Werner Herzog: Das Dämmern der Welt. Hanser, München 2021. 128 S., 19 €.

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