Buch-Tipp: Reinhard Hauff – Vermessung der Wirklichkeit

Der Geruch der Straße

Lange Zeit war das filmische Werk von Reinhard Hauff überschattet – durch den Skandal um den RAF-Prozess-Film »Stammheim« (auf der Berlinale hatte Jurypräsidentin Gina Lollobrigida offen gegen die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären protestiert), durch den Erfolg der Verfilmung des Grips-Theater-Musicals »Linie 1« sowie durch Hauffs lange Zeit als Direktor der DFFB. Eine Publikation in der Edition Text + Kritik korrigiert diese Wahrnehmung jetzt, bringt vor allem auch die gerade nicht zugänglichen Filme in Erinnerung. In gewisser Weise war Hauff ein Solitär in der deutschen Filmgeschichte, auch wenn er zusammen mit einem der prominentesten Vertreter des Neuen Deutschen Films, Volker Schlöndorff, Anfang der Siebziger die Bioskop-Filmproduktion gründete. 

Hauffs Werk entstand im Schatten des Weltkriegs, in den er 1939 hineingeboren wurde, und aus der Reibung zwischen Extremen. Hier die künstlichen Welten der leichten Show-Unterhaltung in Zusammenarbeit mit Michael Pfleghar und Rolf von Sydow auf dem Bavaria-Gelände, wo er viele Jahre fest angestellt war. Dort der Geruch der Straße, in den ab 1968 gedrehten Spielfilmen über Außenseiter der Gesellschaft, Die Revolte, Mathias Kneißl, Die Verrohung des Franz Blum, Messer im Kopf, Endstation Freiheit, unter anderem in enger Zusammenarbeit mit Burkhard Driest, der seine Kleingangster- und Knasterfahrungen mitbrachte. In den Essays von Egon Netenjakob über das Gesamtwerk und von Rolf Aurich über die Seelenverwandtschaft mit dem indischen Regisseur Mrinal Sen werden Linien durchs Werk gezogen, wird aus verschiedenen Perspektiven Hauffs Streben nach Authentizität herausgearbeitet: »Der Wirklichkeit ins Auge sehen und sie nicht durch ein bekanntes Erfolgsschema oder eine Kinoillusion im Wesen verändern, das macht unsere Filme aus«, schreibt Hauff in Bezug auf den indischen Kollegen. Dass diese nah an der Wirklichkeit produzierten Kinofiktionen problematische Konsequenzen haben, wenn Laiendarsteller zu Filmstars, Realität zu Kinoerzählung wird, hat Hauff im Spannungsfeld von »Paule Pauländer« und »Der Hauptdarsteller« offen thematisiert. Ein ausführliches Interview, das die Herausgeber Aurich und Hans Helmut Prinzler mit dem Regisseur geführt haben, ist weniger ein »Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hauff?« – es folgt eher den Stationen des Lebens. Und auch vom Interview mit Hauffs langjährigem Kameramann Wolfgang-Peter Hassenstein hätte man sich ein paar konkretere Einblicke in die künstlerische Zusammenarbeit gewünscht. Ergänzt wird der reich bebilderte Band durch ein umfassendes Werkverzeichnis.

 

 

Rolf Aurich, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Reinhard Hauff . Vermessungen der Wirklichkeit. Edition Text & Kritik, München 2021. 204 S., 29 €.

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