Wovon träumt das Metaverse?

Virtuelle »Sundance Film Party« 2021

Virtuelle »Sundance Film Party« 2021

Fiction-Filme entwerfen seit Jahrzehnten Computerwelten, die »­begehbar« sind – per Avatar. ­Facebooks Mark Zuckerberg bastelt jetzt im großen Stil daran, das soziale Netz zu ­dreidimensionalieren. Thorsten Hennig-Thurau und Lisa Gotto über Vision, Wirklichkeit und virtuelle Lichtspielhäuser

»Willkommen im Metaverse!« titelte der Journalist Gabriel Rinaldi in der »Frankfurter Allgemeinen«, nachdem er seine Interviews nicht via Telefon oder Zoom, sondern vor Ort durchgeführt hatte, in den computersimulierten Räumen der Uni Münster. Die Ära des Metaverse ist nicht länger Zukunftsvision, sondern Realität – sofern man das von einer virtuellen Umgebung sagen kann. Technologiekonzerne investieren Milliardenbeträge, Analysten sagen Billionenumsätze voraus. Und die Menschen nehmen die Angebote an: Das VR-Headset Quest 2 des nun passend in Meta umbenannten Facebook-Konzerns hat sich 2021 öfter verkauft als Microsofts Xbox-Konsole, und in den Metaverse-Welten Roblox und Fortnite tummeln sich monatlich jeweils mehr als 200 Millionen (überwiegend junge) Nutzer:innen. 

Dieses ganz reale Metaverse des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich vom Internet, wie wir es täglich nutzen, dadurch, dass computergenerierte dreidimensionale Welten als begehbare Umgebung fungieren. Headsets sind das präferierte Transportmittel in diese Welten, in denen Menschen mittels grafischer Stellvertreter, sogenannter Avatare, agieren. Nicht zuletzt hat das Metaverse einen kollektiven Charakter: Während wir im Internet allein bei Amazon shoppen, bei Google suchen und bei YouTube schauen, sind wir im Metaverse mit anderen Menschen zusammen unterwegs und empfinden »soziale Präsenz«, ähnlich wie im physischen Umfeld. 

Die gesellschaftliche, aber auch ökonomische Bedeutung dieses Metaverse besteht darin, dass es sich anschickt, unseren Alltag auf den Kopf zu stellen. Der frühere Amazon-Studios-Manager und heutige Metaverse-Vordenker Matthew Ball hat formuliert, dass wir Menschen doch keine jahrtausendelange Evolution durchlaufen hätten, um am Ende auf 2D-Bildschirme zu schauen und zu tippen. Das betrifft dann nicht zuletzt auch, was wir schauen, wie wir schauen und wo wir schauen. Die (Alp-)Träume der Filmemacher:innen vom Leben in virtuellen Welten, die aus dem Science-Fiction-Kino nicht wegzudenken sind, haben ein reales Gegenstück bekommen, das die Welt des Films grundlegend verändert. 

Filmträume vom Metaverse

Am Anfang war die Fantasie. Die Vokabel »Metaverse«, heute Lieblingswort der Kapitalistenelite, hat Neal Stephenson 1992 in seinem wilden Genremixroman »Snow Crash« in die Welt gebracht. Er lässt den Programmierer und Pizzakurier Hiro Protagonist (!) zwischen einem verkommenen Los Angeles und einem computergenerierten Universum wandeln – dem Metaverse eben. 

Aber die Einflüsse des Fiktionalen sind nicht auf Begrifflichkeiten beschränkt. Romane wie Daniel F. Galouyes »Simulacron-3« (1964), William Gibsons »Neuromancer« (1984), Tad Williams' »Otherland«-Tetralogie (1996 – 2001) und Ernest Clines »Ready Player One« (2011) haben die Vorstellungen von virtuellen Realitäten von Millionen Leser:innen geprägt. Und sie haben viele Filmemacher:innen inspiriert, deren Visionen virtuelle Welten nicht nur beschreiben, sondern bildgewaltig vorführen. So sind Filme über das Metaverse auch ästhetische Probehandlungen: Sie liefern Unternehmern wie dem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg einen audiovisuellen Bauplan für die Gestaltung des Metaverse. Dass die »Wirklichkeit« sich bei der Kunst bedient, ist zwar kein Einzelfall, schon die grotesken Wasserspeier der Kathedrale von Notre-Dame sind nach Victor Hugos literarischen Fantasien modelliert. Aber selten dürften die Visionen von Filmemacher:innen derart weitreichende Auswirkungen auf unser Leben gehabt haben. 

»Ready Player One« (2018). © Warner Bros. Pictures

Die konstitutiven Elemente des Metaverse sind im Film dieselben wie jene, die Nutzer:innen erleben, wenn sie ein Headset von Meta oder Pico aufsetzen und in Apps wie Altspace oder VRChat Freund:innen treffen. Im Film wie im Leben geht es um computergenerierte virtuelle Welten, die von Avataren bevölkert werden. Die Art und Weise, wie Filmemacher:innen diese Elemente ausgestalten, variiert dabei erheblich, und einige Metaverse-Filme haben mehr Ähnlichkeit mit den heutigen virtuellen Realitäten als andere. Das mag mit technischen Grenzen zu tun haben (Fotorealismus verträgt sich noch nicht mit der jetzigen Headset-Generation), aber auch damit, was Manager besonders beeindruckt. So hat es etwa dem Content-Chef des Meta-Konzerns besonders die virtuelle Welt »OASIS« aus Steven Spielbergs Filmversion von »Ready Player One« aus dem Jahr 2018 angetan – das Metaverse zu eben dieser auszubauen ist seine Vision. 

Von der Dystopie zum Sozialen Treffpunkt

Filme beeinflussen das Metaverse nicht nur als Vorlage, sondern auch dadurch, dass sie gesellschaftliche Debatten rund um das Leben und Wirken in virtuellen Welten anregen und dadurch zu deren Akzeptanz (oder Ablehnung) beitragen. Einer der ersten Filme, der Stoff für einen solchen Diskurs lieferte, war Rainer Werner Fassbinders »Welt am Draht« (1973), eine freie Adaption von Galouyes Buch. Fassbinder zeigt eine virtuelle Kleinstadt als digitales Universum, das deutliche Parallelen zu unserem Alltagsleben aufweist – aber deren Bewohner:innen sich ihrer Metaverse-Existenz gar nicht bewusst sind. »Welt am Draht« ist ein früher Testlauf im Hinblick auf die gesellschaftlichen Konsequenzen des Metaverse. Über allem steht dabei die fundamentale Frage, was denn »wirklich« ist in einer Welt, in der virtuelle und physische Realitäten (fast) untrennbar sind. 

»Welt am Draht« war ebenso wie Disneys spleeniger »Tron« (1982, Steven Lisberger) seiner noch vordigitalen Zeit deutlich voraus. Erst in den 1990ern wurden VR und das Metaverse zum regelmäßigen Bestandteil des Filmprogramms. Die Verbreitung von PCs und Mehrpersonen-Computerspielen, bei denen Nutzer:innen in virtuellen Umgebungen auf andere Personen trafen, hatte die Zuschauer:innen für Metaverse-Visionen sensibilisiert, was Hollywood zum Anlass nahm, mit seinem neuen Repertoire an Computereffekten virtuelle Welten in Szene zu setzen. Die Grundfärbung der meisten Filme dieser Zeit ist dystopisch dunkel; wenig Gutes passiert im Metaverse. Dieses fungiert insbesondere in den frühen Filmen der Phase (etwa in »Lawnmower Man«, 1992, und »Virtuosity«, 1995, beide von Brett Leonard, oder in »Johnny Mnemonic«, 1995, von Robert Longo) vor allem als Schauwert: Der Bruch zwischen der »echten«, physisch existenten Welt und der virtuellen Umgebung, in die die Protagonist:innen eintauchen, wird als Spektakel inszeniert. Auch die Hardware ist filmische Attraktion: Headset und Datenhandschuh in »Disclosure« (1994, Barry Levinson) haben nichts mehr mit den klobigen Konstruktionen aus Fassbinders Film gemein, sondern nehmen die aktuellsten Prototypen aus dem Hause Meta vorweg. Wer keine spektakuläre FX bietet, floppt, so wie »VR.5«: Die erste TV-Serie über Virtual Reality wird 1995 noch vor der Ausstrahlung der letzten Folgen abgesetzt.

Das Metaverse ist zu dieser Zeit keine Realitätsimitation mehr; stattdessen imaginiert Hollywood Computerwelten mit ganz eigenen Möglichkeiten und (Super-)Kräften. Das ändert sich auch nicht, als die Metaverse-Filme mit wachsender Gewöhnung an das Digitale reifer werden: In »eXistenZ« (1999, David Cronenberg) ist das Metaverse eine biotische Welt, bei der Sex via »Bio-Ports« stattfindet, in Joseph Rusnaks »13th Floor« (1999) ein computersimuliertes Los Angeles des Jahres 1937 und in »The Matrix« von den Wachowski-Geschwistern (1999) kann Protagonist Neo im Metaverse Kugeln ausweichen und schließlich gar abheben wie einst Superman. Alle drei Filme sind Variationen des »Simulacron-3«-Stoffs, im Mittelpunkt steht daher wie bei Fassbinder die Echtheit von physischen und virtuellen Erfahrungen – und deren Wert für uns Menschen. 

Als Anfang der 2000er die Internetblase platzt, verliert auch das Kino das Interesse am Metaverse. Erst als 15 Jahre später das Start-up Oculus ein neuartiges Headset vorstellt und kurz darauf für zwei Milliarden Dollar von Facebook aufgekauft wird, entdeckt die Filmbranche das Metaverse aufs Neue. Mit dem zunehmend digitalen Alltag ändert sich dabei der filmische Blick: Virtuelle Welten verlieren an Bedrohlichkeit, komödiantische (»Free Guy«, 2021, Shawn Levy) und sogar romantische Elemente (die Serie »Upload«, seit 2020, Greg Daniels) erhellen das Metaverse. In Spielbergs »Ready Player One« (2018) ist die »OASIS« zwar Schauplatz intensiver Gefechte, aber eben auch ein sozialer Ort zum Lernen, Spaßhaben und Sich- verlieben – das Metaverse als durchaus willkommene Ergänzung zur kaputten physischen Welt.

Der Blick auf das Metaverse in Film und Serie rückt ab von Einzelkämpfer:innen; die Protagonist:innen sind jetzt oft Teil eines pulsierenden sozialen Gefüges. Und Pauschales macht Differenziertem Platz: Statt einer Alternative zum »echten« Leben ist das filmische Metaverse nun Teil davon. Das ersetzt existenzielle Fragen durch praktische: Wie gestalten wir unsere Avatare, woran erkennen wir uns im Metaverse, wie viel Zeit sollten wir darin verbringen? (Die »OASIS« wird am Ende von »Ready Player One« dienstags und donnerstags geschlossen, damit genug Zeit für die physische Realität bleibt.) Bei allem Interesse bleibt die Filmwelt aber skeptisch, was sich nun nicht zuletzt in ökonomischen (Sub-)Themen ausdrückt. Während Meta und Microsoft im Jahre 2022 mit chinesischen Konzernen um die Vorherrschaft im Metaverse ringen, führen uns Filme- und Serienmacher:innen dessen kapitalistische Zukunft vor, In-App-Käufe, Werbung, Kundenpriorisierung und die Abwesenheit von Privatsphäre inklusive. 

Warum so viel Kritik, wenn das Metaverse den Menschen doch genauso wie das Kino Eskapismus bieten will? Geht es um den Kampf des Kinos als Ort des Echten und Wahren gegen das computersimulierte Künstliche und Falsche? Oder fühlt sich der Kinofilm als Medium bedroht, wie einst vom Fernsehen, das im Film auch meist schlecht weggekommen ist? Das wäre gar nicht unbegründet: Denn in der Tat fordert das Metaverse Veränderung von Filme- wie von Kinomacher:innen, und zwar sowohl als Raum für neue Abspielorte als auch für neue Filmformate. Aber: Darin liegen auch Chancen.

Nur das Popcorn schmeckt noch nicht

Die »OASIS« von Cline und Spielberg illustriert, dass man in der Virtualität des Metaverse ziemlich vieles machen kann – und man dabei auf gewohnte physische Gesetzmäßigkeiten nur so weit Rücksicht nehmen muss, wie man es eben für wünschenswert hält. In der Tat ist das heutige Metaverse bereits Raum für vielfältige Beschäftigungen: Dort wird gearbeitet (z. B. in der App Horizon Workrooms), unterrichtet (z. B. im virtuellen Unihörsaal in Altspace) und gespielt (z. B. in den Apps RecRoom und Roblox). Nicht zuletzt aber ist das Metaverse auch eine willkommene Umgebung, um Filme zu schauen. Filmkonsum ist eine der Lieblingsaktivitäten der deutschen Metaverse-Besucher:innen, mehr als jede:r dritte Besitzer:in eines Headsets macht dies hierzulande. 

In Mark Zuckerbergs Metaverse hat YouTube ebenso wie Net­flix und Amazon eine eigene App, bei der der Zuschauer (bzw. sein Avatar) im virtuellen Wohnzimmer vor einer großformatigen, auf Wunsch auch gerundeten Leinwand sitzt und die Inhalte des jeweiligen Dienstes in 3D-Audio und High Definition schaut. In der »Home«-Umgebung der Quest-Brille können die Metaverse-Nutzer:innen das Filmangebot von Oculus TV ansehen, darunter (zumindest in Nordamerika) eine monatlich wechselnde Reihe von Lionsgate-Spielfilmen, die Meta speziell für diesen Abspielort lizensiert hat. 

Der Unterschied zwischen der »Home«-Umgebung und den Streaming-Apps: Im virtuellen Zuhause können sich die Metaverse-Nutzer:innen in Avatargestalt gegenseitig besuchen – und dann gemeinsam Filme schauen. Damit spielt das Metaverse die sozialen Potenziale seines kollektiven Charakters aus. Und anders als bei den doch recht unbeholfenen Versuchen des zweidimensionalen Internets, mittels »Amazon Prime Watch Party« und parallelem Videochat das Gefühl von Nähe herzustellen, sind die Zuschauer:innen hier tatsächlich im gleichen (virtuellen) Raum. 

Während Metas virtuelles Kino noch stockend daherkommt, was das Bewegen im Raum angeht, machen andere Bereiche des Metaverse weitaus mehr Spaß. In Apps wie Altspace und VRChat haben Nutzer:innen Welten gebaut, in denen große Leinwände platziert sind. Das Spektrum der Umgebungen, in denen man mit anderen Personen zusammen Filme schauen kann, reicht dabei von Wohn- und Schlafzimmer über Kinosaal bis Weltall, von realitätsnah bis fantastisch. Das Repertoire der gezeigten Inhalte ist oft erstaunlich – und wohl nicht immer mit den Rechteinhaber:innen abgestimmt. 

Der schönste Ort zum Filmeschauen im Metaverse des Jahres 2022 ist aber die App Bigscreen: Sie bietet die Möglichkeit, mit bis zu 15 Freunden im eigenen privaten Kinosaal Filme zu schauen oder eine öffentliche Filmvorführung zu besuchen. Dabei kann man sich mittels Blickkontakt oder auch verbal prächtig über das, was auf der virtuellen Leinwand passiert, austauschen, ganz wie beim physischen Kinobesuch. Gegen die Ästhetik und den Sound des Metaverse-Kinos sehen viele physische Filmtheater ziemlich alt aus. Bigscreen kooperiert mit Paramount; eine private Kinovorführung von »Top Gun« (auch in 3D!) oder »Indiana Jones« kostet zwischen vier und fünf Euro. Alternativ kann die Avatargemeinschaft (kostenlos) zusammen YouTube  – und damit auch alle bei Google erworbenen Filme und Serien – oder eigene Inhalte vom Rechner streamen. Das Popcorn und die Cola, die es gratis zu jeder Vorführung gibt, schmecken indes noch ziemlich digital. 

Solche virtuellen Lichtspielhäuser kombinieren die Bequemlichkeit und Brillanz des Streaming mit der sozialen Komponente des Kinobesuchs und dürften zu den spannendsten ökonomischen Entwicklungen der Filmwelt zählen. Sie bringen Menschen zusammen, ganz unabhängig davon, wo sie sich tatsächlich befinden, und sie sind quasi barrierefrei. Das physische Kino muss sich ein weiteres Mal fragen, was es der nun räumlichen digitalen Alternative entgegenzusetzen hat, die auch in diesem Fall von Branchenfremden angestoßen wird. 

Aber das Metaverse ist nicht nur ein Ort zum Betrachten, sondern auch zum Agieren. Und so bieten verschiedene Plätze im Metaverse den Nutzer:innen Gelegenheit, Filmorte selbst zu erfahren. In Altspace können Harry-Potter-Fans in Hogwarts herumspazieren. Die Nostromo bietet »Alien«-Freund:innen wohligen Grusel, wer sich traut, kann in der »Ghostbusters«-Welt auf Augenhöhe mit dem übergroßen Marshmallow Man fliegen. In der VRChat-Welt Spider-Lair kann man sich seinen favorisierten Spider-Man-Anzug überstreifen und durch einen virtuellen Nachbau von New York schwingen. All das geht sowohl allein als auch zusammen mit Freund:innen. Diese Welten sind nicht das Werk von Hollywoodstudios, sondern von Enthusiasten, die sich und anderen Metaverse-Besucher:innen Filmträume erfüllen. Aber auch einzelne Produktionen, so etwa der 360-Grad-Film »Baba Yaga«, nutzen das Metaverse schon, um Räume zwischen Werbung und Mitspielen zu schaffen. 

Im Grunde sind diese Orte hochimmersive Weiterentwicklungen des Open-World-Gaming, bei dem es indes weniger um das Narrativ geht als um den Raum, in dem sich alles abspielt. Die mit dem Metaverse verbundenen Möglichkeiten sind gerade für Filme vielversprechend, deren Welten von größerer Anziehungskraft sind als ihre Story. Beispiel Avatar: Wäre ein Metaverse-Planet Pandora nicht viel aufregender als die Filmfortsetzung der Geschichte von Jake Sully? 

Das realweltliche Pendant zu solchen Konzepten sind Themenparks. Es überrascht daher nicht, dass man bei Disney große Pläne in Sachen Metaverse hegt. Konzernchef Bob Chapek will Disney+ zur Plattform ausbauen, auf der man Bücher, Filme und Themenpark­attraktionen zusammenführt. Auch andere Studios planen, ihren Franchises im Metaverse eine räumliche Dimension zu geben: So will Lionsgate einen virtuellen Themenpark in der Metaverse-App Sandbox als Anlaufstelle für Filmfans schaffen. Diese sollen dann in den dystopischen »Hunger Games«-Umgebungen Abenteuer erleben und sich dort auch gleich ein Grundstück kaufen. Und, bitte schön, das passende T-Shirt für den eigenen Avatar: Auf 60 Milliarden Dollar belief sich der globale Umsatz mit virtuellen Gütern im letzten Jahr, ohne dass Filmstudios überhaupt angefangen haben, ihre Marken im Metaverse anzubieten. 

Filmformate fürs Metaverse

Die Filmorte des Metaverse bieten auch Platz für innovative Filmformate. Die »Avengers«-Regisseure Anthony und Joseph Russo etwa sehen in immersiveren Geschichten, zu denen die Zuschauer:innen mehr Zugang haben, eine Zukunft des filmischen Erzählens. Bereits heute findet der Metaverse-Besucher nicht nur die aus anderen Medien bekannten Filme in 2D oder 3D, sondern auch ganz neue audiovisuelle Erzählformen. 

Das Metaverse bietet, genau wie die physische Realität, einen Rundumblick in 360 Grad: Wir können nach vorne, hinten, oben und unten blicken. Die simulierte Umgebung ermöglicht es, dass der Platz des Zuschauers buchstäblich mitten im Filmgeschehen ist. Katherine Bigelow hat in der Exposition von »Strange Days« (1995) die damit verbundenen Möglichkeiten auf den Punkt gebracht. »This is life«, sagt da Ralph Fiennes dem Kunden, dem er eine virtuelle 360-Grad-Erfahrung anpreist: »You're doing it. You're feeling it.«

Seit mehreren Jahren haben führende Filmfestivals wie Sundance, Tribeca und inzwischen auch die Berlinale eigene Sektionen eingerichtet, in denen 360-Grad-Produktionen aufgeführt werden. Hier ist alles noch frühes Experimentalstadium, aber gerade deshalb von einer großen Vielfältigkeit. Sowohl in Bezug auf die ästhetische Erweiterung der herkömmlichen Kinoerfahrung als auch in Bezug auf veränderte Vorführbedingungen erinnert die Entwicklung des VR-Films an das Expanded Cinema in den 1960ern, bei dem klassische Filmvorführungen um weitere Projektionen und Performances ergänzt wurden. Bei der diesjährigen Sundance-Ausgabe konnten Festivalbesucher:innen VR-Filme nicht nur gemeinsam mit den Avataren der anderen Zuschauer:innen in einem virtuellen »Film House« erleben, sondern auch im Anschluss mit ihnen und den Filmemacher:innen im »Party House«, einem kreierten sozialen Raum im Metaverse, diskutieren. 

Viele der besten VR-Filme sind Dokumentationen, die den Rundumcharakter von Virtual Reality für besondere Einblicke nutzen, so etwa in die International Space Station (»Space Explorers: The ISS Experience«, 2020, Félix Lajeunesse & Paul Raphaël) oder das Leben von Insekten (»Micro Monsters«, 2020, David Attenborough). Aber auch fiktionale Kurzfilme, oft in animierter Form wie »Henry« (2015, Ramiro Lopez Dau), der als erste VR-Produktion mit einem Emmy ausgezeichnet wurde, nutzen die neuen visuellen Optionen. Ein weniger festivaltauglicher Nebenstrang des VR-Films, der für die Diffusion des Metaverse aber eine wichtige Rolle spielen könnte, ist das Sexgenre, dessen Eignung für das immersive Format Hollywood in »Strange Days« und »Demolition Man« (1993, Marco Brambilla) vorweggenommen hat. Das Genre, das für den Erfolg der Videokassette und des Internets zentral war und nun zu den produktivsten des VR-Films zählt, hat es indes diesmal schwerer, weil sich die amerikanischen Metaverse-Plattformbetreiber:innen als Gatekeeper um »Sauberkeit« bemühen. 

Aber nicht nur für Hardcore-Inhalte in 360 Grad ist die Distribution eine zentrale Herausforderung. Wegen des Fehlens einer einheitlichen Plattform sind manche VR-Filme nur auf den Oculus-Geräten von Meta zu sehen, während andere nur mit der Hardware der Konkurrenz geschaut werden können. Zudem fehlt es bisher an einem Monetarisierungsmodell. Während die oben genannten Filme Teil des kostenlosen Angebotes von Oculus TV sind, müssen andere im App-Store von Meta einzeln verkauft werden – ­bei Kurzfilmen von wenigen Minuten kein leichtes Unterfangen. Hinzu kommt die ästhetische Hürde: Wie kann der große Raum sinnvoll gestaltet werden? Der Rückgang der Nachfrage nach 3D-Filmen dürfte auch damit zu tun haben, dass sich viele Filmemacher:innen schwer damit tun, die Tiefe des Bildes zu füllen – eine Herausforderung, die im Fall von VR-Filmen nochmals deutlich gesteigert auftritt. 

Eine Lösung könnte darin liegen, dass man die Zuschauer:innen einlädt, aktiv zu werden, um so die virtuellen Räume zu nutzen. Im 360-Grad-Animationsfilm »Madrid Noire« (2021, James A. Castillo) gibt es interaktive Segmente, bei denen die Zuschauer:innen ihren VR-Controller als Taschenlampe nutzen müssen, um der Hauptperson zu helfen. Hier vermischen sich Spielfilm und Game auf eine Weise, bei der das Metaverse zur medialen Spielwiese wird. Wie wichtig interaktive Storys im Virtuellen sein werden, zeigt die Übernahme des Game-Herstellers Activision Blizzard durch Microsoft für 68 Milliarden Dollar als Teil der Metaverse-Strategie des Techkonzerns. Überhaupt sind jede Menge Grenzverschiebungen zu erwarten – nicht nur zwischen Film und Games, sondern auch zwischen Genres (Fiction/Doku) und Räumen (Kino/Spielwelten/Festivals/Museen etc.). 

Meet Me in the Metaverse

Aus der Filmvision des Metaverse ist im Jahre 2022 (virtuelle) Realität geworden. Wie viel von der »OASIS« heute schon darin steckt, zeigt die via Crowdfunding finanzierte Dokumentation »We Met in Virtual Reality« (2022) über menschliche Beziehungen in der Virtualität, die Joe Hunting vollständig in der Metaverse-App VRChat gedreht hat. Unabhängig davon, ob sich die Investitionen einzelner Unternehmen rentieren und ihre Visionen erfüllen, wird das Metaverse zum Bestandteil unseres Lebens werden. Die Filmbranche sollte dies als Chance begreifen und sich bei der Ausgestaltung einbringen, statt »Business as usual« zu machen. 

Nach Fassbinder hat der deutsche Film das Metaverse aus den Augen verloren, sowohl in künstlerischer als auch in gestaltender Hinsicht. Die Metaverse-Innovationen kommen von anderswo, die Plattformen ebenso wie die Welten und die Inhalte. Dabei ist das Metaverse kein lokaler Ort, sondern einer, an dem sich Menschen aus allen Teilen der Welt zum Filmschauen und -erleben treffen. Es braucht Offenheit und Mut statt Ignoranz und Verteidigung, damit für den deutschen Film das Metaverse nicht zu jener Dystopie wird, wie sie so oft im Kino zu besichtigen war. Die Filmbranche, Künstler:innen, Produzierende und Verleihe ebenso wie Kinomacher:innen sollten das Metaverse als das erkennen, was Protagonist Wade Watts aus »Ready Player One« in ihm sieht: einen Platz, in dem unsere Vorstellungskraft die Grenzen der Realität definiert. Und wir buchstäblich alles machen können.

Über die Autor:innen

Thorsten Hennig-Thurau ist Professor für Marketing und Medien an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster und Akademischer Direktor des eXperimental Reality Lab des Marketing Centers an der WWU.

Lisa Gotto hält die Professur für Theorie des Films an der Universität Wien; zuletzt erschienen von ihr »Big Screens, Small Forms. Visual Varieties in Digital Media Culture«, »Passing and Posing Between Black and White« und »Kino unter Druck. Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang« (mit Dominik Graf)

Begriffserklärung

DAS Metaverse gibt es genauso wenig wie DAS Internet. Was sich nach einem großen, geordneten Ganzen anhört, ist in Wirklichkeit eine Ansammlung unterschiedlicher Apps. Wer zum Beispiel das Metaverse mit der VR-Hardware von Meta betreten will, muss diese Apps im firmeneigenen App-Store auf seine Oculus-Quest-Brille laden. Bestimmte Metaverse-Anwendungen lassen sich auch über das Smartphone oder den PC nutzen, allerdings ist die empfundene Immersion dann deutlich geringer.

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