Nahaufnahme von Jean-Pierre Léaud

Der die Zeit arbeiten lässt
»Der Tod von Ludwig XIV« (2016). © Grandfilm

»Der Tod von Ludwig XIV« (2016). © Grandfilm

Seit fünfzehn Jahren hat der Franzose Jean-Pierre Léaud, bekannt geworden als Antoine Doinel bei Truffaut, keine tragende Rolle mehr gespielt. Jetzt meldet er sich zurück: kraftvoll – obwohl er den sterbenden Sonnenkönig spielt

Vielleicht haben wir uns ja stets übertrieben viel Sorgen um ihn gemacht. Schließlich wurde auch aus dem kleinen Antoine Doinel ein gestandener Mann; wobei er im Verlauf von fünf Filmauftritten allerdings einen ziemlichen Liebessalat anrichtete. Seit seinem Debüt in »Sie küssten und sie schlugen ihn« haftet Jean-Pierre Léaud der leise Verdacht an, er könne in der Wirklichkeit verloren gehen.

Aber immerhin sprang er dann doch nicht, wie angedroht, nach dem Tod seines Entdeckers François Truffaut aus dem Fenster. Und angesichts der hohen Selbstmord­rate, die regelmäßig mit den Dreharbeiten der Filme von Jean Eustache einherging, darf man Léaud wohl als Überlebenskünstler betrachten. Wenn jede seiner Rollen eine Wette mit der eigenen Lebenstüchtigkeit ist, dann hat er sie meist gewonnen. Dennoch ist eine Verletzbarkeit in ihm, die den Impuls weckt, sich um ihn zu kümmern. Ein hinfälliger Monarch wie Ludwig XIV., der von seinem Hofstaat umhegt werden muss, ist selbstredend eine Paraderolle für Léaud. Vielleicht hatte Truffaut ja recht, als er sagte, die mageren Schauspieler könnten im Gegensatz zu den wohlbeleibten ihre Angst nie ganz verbergen. Aber in der Titelrolle von Albert Serras asketischer Elegie »Der Tod von Ludwig XIV.« beweist Léaud zugleich Unverwüstlichkeit. Sein Antlitz hält auch dem intensivsten, beharrlichsten Kamerablick stand. Der katalanische Regisseur filmte ihn stundenlang, ununterbrochen und mit drei Kameras gleichzeitig. Die Dialoge, berichtete Léaud, habe er meist heraus­geschnitten und nur sein Atmen behalten. Es kam ihm vor, als würde gleich sein eigenes Sterben mitgefilmt. Aber nach Drehschluss rief er seinen Agenten an und versicherte ihm, so viel Energie habe er seit »Sie küssten und sie schlugen ihn« nicht mehr in sich ­gespürt.

Die Lebensalter können bei einem wie ihm ohnehin leicht durcheinandergeraten. Am Ende von »Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent« spiegelt sich das Gesicht seines Claude in der Scheibe eines Automobils, und er muss entdecken, dass er alt geworden ist. Kaum vorstellbar, dass 1971 gerade erst zwölf Jahre seit Léauds erster Kinorolle vergangen waren. Es brauchte Bart, Brille und viel Schminke, um ihm mit 27 Jahren Reife zu verleihen. Bis dahin konnte das Publikum sein Heranwachsen hautnah miterleben. Der eingangs verträumte und aufgeweckte Antoine Doinel ließ sich unternehmungslustig auf den Widerspruch zwischen vorläufigen und endgültigen Gefühlen ein. Beharrlich verteidigte Léaud in diesem Bildungsroman die Poesie des Kindes gegen die Forderungen des Erschwachsenenlebens.

Bei Godard standen seine Figuren, zumal im Umfeld des Pariser Mai, auf der Höhe der Zeit, hatten wortreich teil an den Diskursen und Umbrüchen der Epoche. Verstiegen und paranoid blieben sie dabei immer, waren heillos verstrickt in ihr reiches Innenleben, das zu ergründen sie der Welt nie wirklich gestatteten. Léaud wirkte vor der Kamera so intensiv, weil seine wachsende Professionalität nie das Flair des unverstellt Laienhaften überschattete. So wurde er zum Paradigma des Nouvelle-Vague-Darstellers. Diese Position baute er in Jacques Rivettes Out 1 aus. Oft lief er deshalb Gefahr, als Selbstzitat besetzt zu werden. Zuweilen hatte er indes das Glück, auf neugierige Regisseure wie Jerzy Skolimowski zu treffen, der ihn bei »Der Start« klug aus seinem gewohnten Radius entwurzelte. In Eustaches epischem Kammerspiel »Die Mama und die Hure« hingegen ist Léaud brillant, eben weil er sich den Müßiggang als anstrengendes, erfüllendes Lebenselement bewahren darf. Der Post-68er bringt seine Tage in den Cafés von Saint-Germain mit Lesen und Verabredungen zu und verliebt sich prinzipiell nur in Frauen, die eine eigene Wohnung haben. »Ich lasse die Zeit arbeiten«, erklärt er vornehm. »Ich erledige doch nicht die Arbeit der anderen.«  

Wer ihn besetzt, hat es nicht nur mit einem Schauspieler, sondern mit einer Aura zu tun. Die Persönlichkeit des Privatmenschen ist untilgbar. Auf dem Set kann man sich ihn ebenso gut als tyrannischen Autisten wie als stillen, demütigen Handwerker vorstellen; kein Film, den seine Präsenz nicht beleben würde. Man schaue sich nur einen Kurzauftritt wie den in Noémie ­Lvovskys »Camille – Verliebt noch mal!« an, wo er als mysteriöser, schamanenhafter Uhrmacher das Leben der Hauptfigur neu justiert, indem er ihre Uhr eine Sekunde vorstellt, »weil keine Mechanik der Welt präzise ist«. Kein Wunder, dass ihn seine Verstiegenheit für den filmischen Kosmos von Aki Kaurismäki empfahl.  

Der Sonnenkönig ist Léauds erste Hauptrolle seit 15 Jahren. Zuletzt trug er den Film »Der Pornograph« von Bertrand Bonello, wo er einen einstmals idealistischen Hardcore-Regisseur spielt, der erkennen muss, wie frauenfeindlich sein Metier geworden ist. Überhaupt wird er gern als Filmemacher besetzt, mal kindsköpfig wie in »Der letzte Tango in Paris« oder versponnen scheiternd wie in »Irma Vep«. Seine Autorität ist stets brüchig. In Väterrollen wirkt er nie zuverlässig. Das ist keine Ausladung an das Publikum, sondern eine Übereinkunft, die beide Seiten schon 1958 trafen, als Antoine Doinel seine ersten, bangen, trotzigen Schritte ins Leben unternahm.

»Der Tod von Ludwig XIV.« startet am 29. Juni

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