Nahaufnahme von Françoise Lebrun

Die Summe einer Karriere
Françoise Lebrun mit Dario Argento in »Vortex« (2021). © Rapid Eye Movies

Françoise Lebrun mit Dario Argento in »Vortex« (2021). © Rapid Eye Movies

Bekannt wurde sie mit Jean Eustaches Dreiecksgeschichte »Die Mama und die Hure«. Nun spielt Françoise Lebrun in Gaspar Noés »Vortex« ihre erste Hauptrolle seit Ewigkeiten

Es ist ein kurzer und kostbarer Moment des Friedens, den die zwei zu Beginn auf ihrer kleinen Balkonterrasse verbringen. Vielleicht nehmen sie ihren Aperitif oder trinken ein Glas nach dem frühen Abendessen; ganz genau lässt sich der Zeitpunkt nicht bestimmen. Bald werden wir erfahren, dass dieser Augenblick unwiederbringlich ist.

Die pensionierte Psychiaterin (Françoise Lebrun) und ihr Mann (Dario Argento) bedenken die Abenddämmerung ihres Lebens. Es gehe ihnen gut zusammen, findet sie, es sei ein Traum. Er ist Filmhistoriker und sieht das etwas anders, spricht von einem Traum in einem Traum. Welche Aussicht sie von ihrem Balkon auf Paris genießen, ist unerheblich; der Blick bleibt auf das Paar konzentriert. Nach diesem Prolog weiht Vortex das Publikum in den Alltag der beiden ein, das Einerlei der banalen Verrichtungen. Sie mögen ihnen nicht mehr so leicht fallen wie einst, aber es liegt eine heitere Sorgfalt in der Routine. Mit dem morgendlichen Erwachen jedoch trennt die Kamera das Paar. Der Bildkader teilt sich in einen Splitscreen und begleitet sie nun aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die neben- oder gegeneinander stehen.

Das ist ein Erzählexperiment, auf das man sich als Schauspielerin erst einmal einlassen muss. Aber Françoise Lebrun hat Erfahrung darin, sich in den Dienst der Vision zu stellen, die ein Regisseur entwickelt. Sie darf gern unkonventionell sein, ein Schritt ins Ungewisse, ein Abenteuer der Entdeckung. Wie mag sie sich etwa darauf eingestellt haben, dass ihr Partner, der gefeierte Giallo-Regisseur, vor der Kamera ein Debütant war? Falls dies eine Herausforderung war, ist es ihrem Zusammenspiel nicht anzumerken. Ohnehin soll zwischen den Figuren ein Abstand entstehen. Denn ihr Alltag hat inzwischen seine Selbstverständlichkeit verloren. Die Demenz der Ehefrau ist vorangeschritten, nun birgt jeder unbeaufsichtigte Moment verheerende Gefahren. Die Radiosendung, die als Hintergrundrauschen läuft, bereitet das Publikum darauf vor, dass Trauer und Verlust eine Rolle spielen werden in Gaspar Noés Film. Ihre Krankheit ist ein Agent der Zeit, die ihr Zerstörungswerk nun noch rascher verrichtet. 

Natürlich geht es für Lebrun am Ende um mehr, als sich in ein Regiekonzept einzufügen. Es gilt, eine Rolle zu erarbeiten, einen Charakter mit Haut und Haar zu verkörpern, ihm Integrität zu verleihen. Die ehemalige Psychiaterin ist beispielsweise ein wenig rascher mit der Zeit gegangen als ihr Mann: Sie sitzt vor einem Laptop, er vor seiner alten Schreibmaschine. Die intellektuelle Altlinke nimmt man der 1944 geborenen Lebrun auf Anhieb ab; ihre filmische und ihre reale Biografie stehen dafür. Den Pariser Mai hat sie 1968 hautnah miterlebt. Schon damals war sie cinephil, machte ein Praktikum bei der Filmzeitschrift »Image et son«, verkehrte in den Kreisen der »Cahiers du cinéma« und wirkte an Schnitt und Produktion einiger Dokumentarfilme ihres Lebensgefährten Jean Eustache mit.

Ihre Neugier ging darüber hinaus. Sie arbeitete zeitweilig für Roland Barthes' Zeitschrift »Communications« und studierte Literatur, als Eustache sie überredete, eine der Hauptrollen in »Die Mama und die Hure« zu spielen, mit dem sie 1973 ihren Durchbruch feierte. Der Film machte Epoche. Als Innenansicht der Pariser Bohème gehört er zu den schönsten atmosphärischen Zeugnissen der Zeit nach 68. Eustaches Dreiecksgeschichte ist ein karger, klaustrophobischer Abenteuerfilm der Worte und Körper, eine fortgesetzte Zimmerschlacht, in der sich Lebrun lebhaft gegen Jean-Pierre Léaud und Bernadette Lafont behauptet. Ihm eignet ein Flair unerbittlicher Authentizität, während der Dreharbeiten überlagerten sich Leben und Fiktion (Eustache verarbeitet auch ihre Trennung) als ein kreatives Pandämonium der gegenseitigen Zerfleischung. Nimmt es wunder, dass Lebrun eine so furchtlose Schauspielerin werden sollte?

In »Vortex« spielt sie ihre erste Hauptrolle seit vielen Jahren. Sie kann darin eine Summe ihrer Karriere ziehen, die rund 90 Kino- und Fernsehfilme umfasst. Gaspar Noé hat sie nicht unschuldig besetzt. Sein Kammerspiel knüpft fünfzig Lebensjahre später an die Klaustrophobie von »Die Mama und die Hure« an, variiert insgeheim Motive und Situationen. Lebruns Auftritt in diesem Film hat ihr Leinwandimage nachhaltig geprägt, sie aber nicht auf einen Rollentyp festgelegt. Sie wurde nie zu einer Institution oder einem Star, sondern zu einem Emblem unaufdringlicher Zuverlässigkeit. Darin liegt eine große Freiheit. Sie hat mit einigen Größen des französischen Autorenfilms gearbeitet – Marguerite Duras, André Téchiné, vor allem Paul Vecchiali und später Arnaud Desplechin –, aber scheute sich nicht, das Angebot der Hollywoodregisseurin Nora Ephron anzunehmen, in »Julie & Julia« aufzutreten. In »Schmetterling und Taucherglocke« hat sie einen Auftritt, der wenige Sekunden dauert. Als Mathieu Amalrics Stiefmutter spricht sie nur einen Satz, aber Julian Schnabel wusste genau, weshalb er gerade sie besetzte: in einer Miniatur, die so pointiert ist, dass ein Eindruck strenger Fürsorge haften bleibt.

Eine Vokabel, die Lebrun in Interviews gern verwendet, ist »l'éventail«, der Fächer. Ihr Spektrum ist mit dem Alter nicht geringer geworden, das der Angebote aber schon. Die Einfallslosigkeit der meisten Drehbücher empört sie. Für die flüchtige Leinwandpräsenz, die sie einer Frau über 70 zugestehen, hat Lebrun ein Schreckensbild gefunden – die Großmutter, die nur auftritt, um die Geburtstags­torte hereinzubringen. Aber sie hat auch eine Strategie dagegen entwickelt: die Treue, die sie mit bestimmten Regisseuren verbindet. 

Das gilt namentlich für ihre kontinuierliche Zusammenarbeit mit Guillaume Nicloux, der sich Lebrun in lauter Rollen vorstellen kann, auf die sie selbst nie gekommen wäre. In »Die Entführung des Michel Houellebcq« besucht der Schriftsteller, auch er ein Debütant vor der Kamera, eine Freundin, die am Klavier übt. »Ich liebe es, Musik zu lesen«, sagt Lebrun, »ich weiß, ich werde nie eine Virtuosin werden.« Er lacht, und plötzlich entsteht daraus ein entspanntes Intermezzo der Selbstironie, Gelehrsamkeit und Nostalgie. Die Begegnung der zwei funktioniert so gut, dass Nicloux sie in einem weiteren Film aufeinandertreffen lässt.

Lebrun sucht die Komplizenschaft mit Außenseitern des französischen Kinos, etwa mit Pierre Creton, dem filmenden Landwirt aus der Normandie, der außerhalb Frankreichs allenfalls den Besuchern der »Viennale« bekannt sein dürfte. Wie Duras setzt er Lebrun gern als Stimme ein, aber zum Glück nicht nur. In »Les vrilles de la vigne« genügen dem Regisseur ein Gartenstuhl und ihre Präsenz, um einen alten Text von Colette zu aktuellem Leben zu erwecken. In »Maniquerville« liest sie mit solch geduldiger Intensität aus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, dass Prousts Text alsbald Besitz von dem Ort, einem Altenpflegeheim, und seinen Bewohnern zu ergreifen scheint. Auch in »Le Voyage à Vezelay« tritt sie als Erzählerin auf. Sie gibt den Weg vor; zuweilen klingt ihre Stimme aus dem Off, als würde sie dem Filmemacher Regieanweisungen geben.

»Das Mädchen, das lesen konnte« (2017). © Film Kino Text

Mit dem Alter ist Lebrun eine eigentümliche, so robuste wie sensible Leinwandautorität zugewachsen. In »Das Mädchen, das lesen konnte« ist sie einnehmend als die Dorfälteste, die für Ordnung sorgt und unbeirrt Rat weiß, als die Frauen nach dem Staatsstreich von Louis Napoleon 1851 allein zurückbleiben. Sie wirkt wie eine Geistheilerin, überliefert ein altes, erlöschendes Wissen. Als ein Fremder auftaucht, wacht sie über das aufkeimende Begehren als streng gewährender Schutzengel. Diese einfühlsame Strenge disponiert sie für das Rollenfach der Mutter Oberin, das sie in »Séraphine« und »Die Nonne« klug variiert. In Guillaume ­Nicloux' Diderot-Adaption ist sie der Sockel, auf dem das Schicksal der titelstiftenden Nonne steht: wiederum eine Siegelbewahrerin der Konvention, die zuerst verständnisvoll wirkt, sich aber als eine subtile Manipulatorin zeigt. „Ihre Kunst besteht darin, alle Dornen des Klosterlebens zu verbergen“, sagt die junge Novizin über sie. Lebrun hält in der Schwebe, wie aufrichtig Mitgefühl und Frömmigkeit der Oberin sind. Ein Meisterstück der Ambivalenz: Sie muss ihre Figur erst verstehen, bevor sie ein Urteil über sie fällt. Ihre Kunst besteht darin, den Fächer weit aufzuspannen.

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