Kritik zu Das Mädchen, das lesen konnte

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Allein unter Frauen: Der deutsche Filmtitel geht schamhaft über einen Sachverhalt hinweg, den der französische Titel – »Der Sämann« – dieses historischen Dramas, das in einem abgelegenen Dorf spielt, korrekt beschreibt

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1851 werden beim Sturz der zweiten Republik in ganz Südfrankreich Widerständler gefangen genommen. So verschleppen Soldaten sämtliche Männer eines abgelegenen Bergdorfs in den provenzalischen Cevennen. Die Frauen müssen trotz ihrer Verzweiflung über die verlorenen Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder weitermachen. Gemeinsam bringen sie die Ernte ein und gewinnen neues Selbstvertrauen. Die Monate vergehen, und die jungen Mädchen verlieren sich in Fantasien über Männer »mit Pobacken wie Äpfelchen«. Sie beschließen, dass, sollte je wieder ein schmucker Kerl auftauchen, sie ihn sich teilen. Prompt erscheint bei der Apfelernte Jean auf der Bildfläche: die Schlange im Paradies?

Marine Francen, eine ehemalige Assistentin von Michael Haneke und Olivier Assayas, umschifft in ihrem Langfilmdebüt mit Eleganz und Feingefühl drohende Klischees. Mit Sofia Coppolas Remake »Die Verführten«, in dem ein Soldat in einem Mädchenpensionat Zuflucht findet, hat dieser Film nur gemein, dass er zeigt, dass die Position eines Hahns im Korb nicht unbedingt beneidenswert ist. Auch hat man es nicht mit einem feministischen »Fisch ohne Fahrrad«-Manifest à la »Antonias Welt« zu tun, in dem Männer nur als Zuchthengste geduldet werden.

Denn diese Frauenwelt, in der die patriarchalische Ordnung zeitweise außer Kraft gesetzt ist, steht unter viel existenziellerem Druck. In jener Zeit erwartet diese Frauen jenseits der schützenden Dorfmauern kein würdiges Dasein. Das sexuelle Begehren/Gebären erscheint als ebenso unverzichtbarer Bestandteil des Selbsterhaltungstriebes wie das Säen und Ernten im Rhythmus der Jahreszeiten. Statt in tendenziell voyeuristischen Sexszenen wird weibliche Sehnsucht vorrangig durch die sinnlich aufgeladene Beobachtung des arbeitsamen Alltags ausgedrückt. Im engen 4:3-Format gedreht, vermittelt der Film hautnah Körperlichkeit wie auch das Gefühl des Gefangenseins in der karg-schönen Berggegend.

Der Versuchung, dem grausamen Pragmatismus dieser Welt ein romantisches Gegengewicht zu verleihen, konnte die Regisseurin jedoch nicht widerstehen. So sticht das Mädchen Violette, aus dessen Sicht erzählt wird, durch seine Bildung und madonnenhafte Ausstrahlung aus dem Kreise seiner lüsternen Freundinnen hervor. Die Liebe zwischen diesem vorbildlichen Frauencharakter und dem ebenfalls lesebegeisterten Jean dient als Begründung dafür, dass Jean, der sich als Schmied ausgibt, sich auch jenseits der Feldarbeit als »semeur« benutzen und zum Objekt der Begierde degradieren lässt. Das politisch Subversive der Geschichte gerät durch diese idealisierte Romanze ein wenig aus dem Blick.

Filmvorlage ist ein auf mysteriösen Wegen postum veröffentlichter Bericht von Violette Ailhaud, dessen Authentizität man zwar hinterfragen kann. Dass die geschilderten Ereignisse in Kriegszeiten so ähnlich passierten, liegt aber auf der Hand. Die den Film durchziehende Diskretion passt durchaus zum realen Schweigen der Frauen über jene Zeiten.

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