Andrei Konchalovsky: Zwischen den Welten

»Paradies« (2016). © Alpenrepublik

»Paradies« (2016). © Alpenrepublik

Der Filmemacher Andrei Konchalovsky hat eine O­dyssee hinter sich. In der Sowjetunion angefeindet, arbeitete er in den 80ern in den USA und kehrte mit der Perestroika wieder zurück. Eine Annäherung an den russischen Regisseur, der am 20. August 80 Jahre alt wird

Die charismatischste Figur in seinem neuen Film »Paradies« ist ein Nazi. Helmut (Christian Clauß), ein hoher SS-Offizier, wird von Heinrich Himmler persönlich in ein Konzentrationslager geschickt, weil dort Korruption und Bereicherung vermutet werden. Der Adlige Helmut ist korrekt; zu Beginn des Films rettet er eine Jüdin vor der Deportation, sie sei nur eine »Vierteljüdin«. Und eigentlich ist Helmut ein russophiler Schöngeist, der davon träumt, seine Promotion über Tschechow zu vollenden. Im KZ trifft er die inhaftierte Olga (Julia Vysotskaya), die als im Exil lebende russische Adlige mit der Resistance sympathisierte und zwei jüdische Kinder versteckte. Olga war Helmuts große Liebe gewesen, 1933, vor dem Krieg. Im Lager bestellt er sie als seine Haushaltshilfe, und sie schauen sich Filme von früher an, verklärte Bilder, wie aus einem Art-Déco-Fotoalbum.

Es gibt im russischen Film der letzten Jahre so etwas wie die Revision des Feindbildes Deutscher. In Karen Schachnazarovs »White Tiger« ist ein Wehrmachts-Kampfpanzer eine nachgerade mythische Maschine, in »Polumgla« fraternisiert ein Dorf mit deutschen Kriegsgefangenen, die sich als nette Kerle entpuppen. Aber so weit wie Andrei Konchalovsky in »Paradies« ist noch keiner gegangen. Denn der smarte und gefühlvolle SS-Revisor Helmut revidiert seine Meinung nicht. Er ist dem Herrenmenschen-Wahn verfallen, glaubt, dass das Paradies der Nazis nur über die Vernichtung der Juden zu erreichen ist. Konchalovsky lässt ihn das direkt in die Kamera sagen, in einer Art Verhör- oder Interviewsituation, der sich auch die anderen beiden Hauptfiguren, Olga und ein französischer Kollaborateur, den schon zu Beginn des Films die Résistance hinrichtet, unterziehen müssen. Es ist offensichtlich, dass diese Gespräche nach dem Tod der Beteiligten stattfinden. Und man kommt nicht umhin, diese Inszenierung religiös zu deuten, wenn schon nicht als Purgatorium (an das die Orthodoxie nicht glaubt), so doch als eine Art Zwischenreich – besonders wenn am Ende ein gleißendes Licht erstrahlt. Und da hat der Titel »Paradies« in diesem Film der Ambivalenzen einen doppelten Sinn.

»Paradies« (2016). © Alpenrepublik

Es gibt immer wieder religiöse Anspielungen in den 27 Filmen von Andrei Konchalovsky. In seinem US-amerikanischen Roadmovie Homer & Eddie lernt die an einem Hirntumor leidende Eddie das Beichten. Und es gibt diesen wunderbaren Dialog: »Glaubst du an Gott?«, fragt Homer. Darauf sie: »Ich glaube nur, was ich auch sehen kann.« Worauf Homer erwidert: »Und was ist mit Polen? Das siehst du doch auch nicht, aber es existiert trotzdem.« Mit »Paradies« greift Konchalovsky indes auf seine Anfangsjahre zurück, auf seine Zusammenarbeit mit Andrej Tarkowski. Konchalovsky stammt aus einer Künstlerdynastie, die zur Nomenklatura der Sowjetunion gehörte – sein Vater Sergej Michalkow, ein Kinderbuchautor, schrieb den Text der 1944 eingeführten sowjetischen Nationalhymne (»Uns erzog Stalin – zur Treue zum Volk«), die er 1977 überarbeitete. Konchalovsky studierte an der Moskauer Filmhochschule VGIK, in der Klasse von Michail Romm, wo er den älteren Tarkowski kennenlernte. Für vier Filme von Tarkowski hat Konchalovsky das Drehbuch geschrieben, darunter der große »Andrej Rubljow« (1966), die episodisch angelegte Biografie des Ikonenmalers. Tarkowski und Konchalovsky haben versucht, die Geisteswelt des 15. Jahrhunderts zu rekonstruieren, und gerade in den Gesprächen Rubljows mit dem griechischen Mönch Theophan geht es um das Jüngste Gericht als eine Instanz der Bestrafung und der Läuterung. Konchalovsky ist mehr Geschichtenerzähler als der immer hermetischer werdende Tarkowski, aber wenn man um die Zusammenarbeit der beiden weiß, erkennt man ikonographische Motive aus dieser Zeit bei Konchalovsky wieder. Auch er liebt das Wasser, seine Filme, bis hin zu seinem vorletzten, »Die weißen Nächte des Postboten Alexej Trjapizyn« (2014), spielen oft am Ufer großer Flüsse oder Seen.

»Andrej Rubljow«, 1966 entstanden, wurde von staatlichen Stellen kritisiert und zurückgehalten, erst 1969 lief er, außer Konkurrenz, beim Filmfestival von Cannes und gewann dort den Preis der internationalen Filmkritik, den FIPRESCI; 1971 kam »Rubljow« erst in die sowjetischen Kinos, für den ausländischen Einsatz blieb er bis 1974 verboten. Ein Schicksal, das er mit dem zweiten Film, den Konchalovsky als Regisseur verantwortete, teilte: »Asjas Glück« von 1967 kam zu Sowjetzeiten nicht in die Kinos, wurde verboten, es hieß, der Film sei ein Werk der CIA. In »Asjas Glück« (der einmal »Istoriya Asi Klyachinoi, Kotoraya Lyubila, da ne vyshla zamuzh«/»Die Geschichte von Asja Klyachina, die liebte, aber nicht heiratete« hieß) ist die Hauptfigur zwar besagte Asja, die ein Kind von einem Mann erwartet, der sie nicht heiraten will, und die den Mann, der sie liebt, auch nicht heiratet. Aber tatsächlich fokussiert sich der Film auf das Kollektiv, auf eine Gruppe von Erntearbeitern in einer Kolchose. Konchalovsky lässt sie von Stalin sprechen, aber auch von den Lagern des Gulag, damals immer noch ein Tabuthema. Konchalovsky hat hier zum großen Teil mit Laiendarstellern gedreht, was dem Film trotz seiner fast lyrisch zu nennenden Fotografie eine gewisse Bodenhaftung verleiht. In einer der prägnantesten Szenen fährt die Kamera von Georgi Rerberg, der später noch die Tarkowski-Filme »Der Spiegel« und »Stalker« fotografierte, die Gruppe der beim Essen sitzenden Arbeiterinnen und Arbeiter ab; einer hat sich Lenin und Stalin auf die Brust tätowiert.

Schon in seinem ersten Film als Regisseur hatte Konchalovsky mit Laiendarstellern gearbeitet. In der 1966 entstandenen Tschingis-Aitmatow-Verfilmung »Der erste Lehrer« (Pervij Ucitel) wird ein junger idealistischer Lehrer im Jahr 1923 nach Kirgisien geschickt, um dort eine Schule einzurichten. Sein Fortschrittsglaube steht gegen die Traditionen und die Trägheit der Dorfbewohner, die sich teilweise selbst verkörpern und denen der Film mit sehr viel Verständnis, ja Sympathie, gegenübertritt. Auch seinen vorletzten Film, »Die weißen Nächte des Postboten Alexej Trjapizyn«, hat Konchalovsky ausschließlich mit Laien gedreht. Der Film, der seine deutsche Premiere beim Wiesbadener goEast-Festival feierte und wie so viele Filme Konchalovskys nie regulär ins Kino kam, ist eine Alltagsbeschreibung, der Postmann Trjapizyn, der in dem Film sich selbst spielt, ist mit seinem Boot die einzige Verbindung eines abgelegenen Dorfes am Kenosero-See zur Außenwelt. Konchalovsky führt wie in allen seinen mit Laien realisierten Filmen die Dorfbewohner nicht vor – er nimmt sie ernst.

»Filmemachen in der Sowjetunion war sehr einfach«, hat Konchalovsky einmal gesagt, »wenn man wusste, was man nicht anfassen sollte. Man musste eine Sprache finden, die jeder verstand – außer den Zensoren.« Nun, bei »Asjas Glück« hat das nicht geklappt, genauso wenig wie bei einem anderen »Frauenfilm« dieser Zeit, Alexander Askoldows »Die Kommissarin« (1968). In der Sowjetunion versiegte die Neue Welle schnell. Konchalovsky realisierte ab den späten 60er Jahren weniger anstößige Stoffe wie die Turgenjew-Verfilmung »Ein Adelsnest« (1969), die meisterhafte Tschechow-Adaption »Onkel Wanja« (1971) oder ­»Romanze für Verliebte« (1974), in der er Szenen fast wie in einem frühen Videoclip inszeniert. Sein sowjetisches Opus Magnum ist »Sibiriade« (1977), die sich über drei Generationen hinziehende Geschichte der Rivalität zwischen zwei Familien in einem sibirischen Dorf, den reichen Solomins und den armen Ustjushanins – der Bogen spannt sich hier von der späten Zarenzeit bis in die 60er Jahre der Sowjetunion.

In den frühen 80er Jahren, nachdem Tarkowski und er (als Drehbuchautor) das Projekt »Pervij Den« (1979) nicht realisieren konnten, emigrierte Konchalovsky in die USA, wobei er seinen sowjetischen Pass behielt. Drei Jahre musste er warten, bevor ihm die Cannon Group der Produzenten Goran und Globus »Mariaʼs Lovers« (1984) anbot. Mit »Homer & Eddie« gelang ihm sein vielleicht persönlichster Film in dieser Zeit – auch wenn Konchalovsky immer wieder betont, dass es keinen Konchalovsky-Stil gebe. »Home is where I long to be / home with friends and family«, heißt es einmal in diesem von Lajos Koltai kongenial fotografierten Film, der zwei Menschen in einem vergammelten Straßenkreuzer durch die USA fahren lässt, die genau das nicht haben: ein Zuhause. Eddie (Whoopi Goldberg) ist aus dem Krankenhaus geflüchtet, als sie erfuhr, dass sie nur noch einen Monat zu leben hat, und seitdem gibt sie sich die Freiheit, alles zu tun, was sie will. Homer (James Belushi) hat als Kind unglücklich einen Baseball an den Kopf bekommen und ist geistig zurückgeblieben (Homer käme von »home run«, sagt er einmal), von seiner Familie wurde er abgeschoben. Konchalovsky beobachtet seine Helden auf der Odyssee zu ihren familiären Wurzeln ruhig und aus Distanz, selten lässt er Mitleid aufkommen, immer aber Sympathie.

Sechs Filme hat Konchalovsky in den USA realisiert, nach »Mariaʼs Lovers« jedes Jahr einen. Es folgte »Runaway Train« (1985), einer der konsequentesten Actionfilme Hollywoods in den 80er Jahren, entstanden nach einem bis dahin nicht realisierten Script von Akira Kurosawa, den Konchalovsky sehr bewunderte. Mit der Geschichte von zwei Ausbrechern, die sich auf einem führerlos durch Alaska rasenden Zug wiederfinden, bewies Konchalovsky, wie er auf der Klaviatur purer Kinetik zu spielen weiß. Bei seinem letzten US-Film, dem mit Sylvester Stallone und Kurt Russell besetzten Actionvehikel »Tango & Cash« (1989) überwarf er sich mit den Produzenten wegen des Schlusses und wurde am Ende der Dreharbeiten ausgewechselt. »Tango & Cash« sei wie jeder richtige Hollywoodfilm ein Film »für Leute, die nicht lesen können«, hat er einmal gesagt – und das Pitchen von Projekten vor den Studioverantwortlichen mit dem Auftritt vor einem »Komitee« verglichen.

1991 kehrte er mit der internationalen Koproduktion »Der innere Kreis« nach Russland zurück, wo er mit der Aufführung seines verbotenen »Asjas Glück« 1987 gewissermaßen rehabilitiert war. Es war der erste Film, der nach der Perestroika innerhalb der Kremlmauern gedreht werden konnte. Tom Hulce, der durch Formans Mozart-Film Amadeus bekannt wurde, spielt den unscheinbaren Filmvorführer Iwan Sanshin, der in seiner Hochzeitsnacht vom KGB abgeholt wird, doch nicht, um wie seine Nachbarn deportiert zu werden, sondern um zum Leibprojektionisten des Diktators Stalin zu avancieren. Konchalovsky ist übrigens 1937, im Jahr des »Großen Terrors«, geboren. »Der innere Kreis« liefert das Porträt eines Systemkonformen, der zu seiner Frau einmal sagt, dass er Stalin mehr liebe als sie. Aber gerade in dieser Naivität desavouiert sich die Ideologie. Konchalovsky nutzt solche Figuren oft, weil sie, ohne je als Karikaturen zu wirken, gesellschaftliche Inhalte absurd erscheinen lassen. In »Der erste Lehrer« ist es der naive Fortschrittsglaube, der an den Realitäten abprallt, in »Homer & Eddie« sagt Homer, als er an seinem Reiseziel Oregon City ankommt und in eine Parade gerät: »Die machen hier jeden Monat was los, und manchmal tragen sie auch Kapuzen« – gemeint ist der Ku-Klux-Klan. Und selbst in »Sibiriade«, für den Konchalovsky einen Staatspreis bekam, ist in der 60er-Jahre Episode der Ölarbeiter Alexej Ustujushanin ein eher unreflektierter Handlanger .

Diesen Alexej spielt übrigens Konchalovskys Bruder Nikita Michalkow, selbst einstmals ein gefeierter Regisseur, in dubiose Machenschaften verstrickt und ein großer Putin-Bewunderer. Auch Konchalovsky (der seit seinem USA-Aufenthalt das »Michalkow« in seinem Namen weglässt) pflegt einen historischen Fatalismus. Schon 1992 sagte er in einem Interview zu »Der innere Kreis«: »Der Westen glaubt immer noch, dass für Russland die einzige Rettung in der Demokratie liege. Auch die sowjetischen Liberalen meinen, wenn sie die Demokratie haben, klappt alles andere. Doch in Russland klappt es mit der Demokratie nicht, weil Russland dazu nicht bereit ist. Dort braucht man eine Demokratie nur in ökonomischer Hinsicht, in politischer Hinsicht dagegen eher eine Verschärfung des Regimes.« Und so ist auch er, wenn auch nicht zu einem Putin-Unterstützer wie sein Bruder, doch zu einem Putin-Versteher geworden.

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