Kritik zu Paradies

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Andrej Kontschalowskis glänzend besetzter Film ist eine kunstvoll komponierte Parabel über menschliche Abgründe und über eine Liebe, die in der Katastrophe endet

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Die Figuren des russischen Dramatikers Anton Tschechow sind häufig Melancholiker, die sehnend und tief empfindend im Hier und Jetzt gefangen sind. Tschechow (1860–1904) stellte die letzten müden Zuckungen der deklassierten Aristokratie dar, ihre hochfahrende Naivität, Weltfremdheit und Gebrochenheit. In Andrej Kontschalowskis Film »Paradies« verkörpert der Dresdner Theaterschauspieler Christian Clauß den deutschen Aristokratenspross Helmut. Er ist in der russischen Literatur zu Hause und plant, über Tschechow zu promovieren. Die Literatur, sagt er, sei seine Flucht vor der Realität gewesen.

Dieser Helmut geht aber einen ganz ­anderen Weg. In Kontschalowskis Film, der im Jahr 1942 im französischen Fresnes einsetzt, schließt sich Helmut der SS an. Er empfindet eine »Welle gleißenden Glücks«, als er in die NSDAP eintritt, und wird zum Überzeugungstäter. Rückblickend stellt er fest: »Wir bauten eine vollkommen neue Welt – ein Paradies auf Erden.« Dieses Paradies sei aber ohne Hölle nicht denkbar, bilanziert der zynische KZ-Kommandant Krause (Peter Kurth). »Und diese Hölle habe ich geschaffen.«

Noch ein Film über die Nazizeit, über Konzentrationslager, Kollaboration und die Psychopathologie der Täter und die Qualen der Opfer. Der Russe Kontschalowski, Jahrgang 1937, variiert ein Thema, ohne ihm ­historisch oder psychologisch eine neue Richtung zu geben. Die Stärke des Films baut sich zusammen aus einer kunstvollen, kammerspielhaften Dramaturgie, einer ­suggestiven Bildersprache, surrealen Elementen und großer Schauspielkunst.

Der Regisseur, der den Film dreisprachig (Deutsch, Französisch und Russisch) in Schwarz-Weiß, mit fünf Kameras gleichzeitig und im Format 4:3 gedreht hat, stellt drei Menschen ins Zentrum der Handlung. Ihre Lebenslinien kreuzen sich. Helmut ist der von Übermenschenfantasien erfüllte, gleichzeitig tschechowhaft gebrochene SS-Mann. Philippe Duquesne spielt Jules, einen sympathisch erscheinenden französischen Kollaborateur; er repräsentiert die Banalität des Bösen. Olga (Julia Vysotskaya) ist eine glamouröse russische Aristokratin. Sie wird beschuldigt, zwei jüdische Kinder in ihrer Wohnung versteckt zu haben. Jules, der sie verhört, droht der »animalischen Kraft« der Frau zu erliegen. Sie macht ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen will, doch der Plan scheitert. Wie sich herausstellt, kennt Helmut diese Olga. Er hat sich einst in Italien in sie verliebt und trifft sie nun im KZ wieder.

Die drei in Einheitskleidung auftretenden Hauptfiguren erscheinen immer wieder wie die Protagonisten eines Dokumentarfilms – oder wie in einem Verhörraum oder einem Beichtstuhl. Erst allmählich begreift der Zuschauer, was ihm hier präsentiert wird. Die Bilder ruckeln und bleichen manchmal aus, als stammten sie wirklich aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Figuren erzählen ihre Geschichten, die die Kamera dann in bewegte, gelegentlich gemäldehaft arrangierte Bilder übersetzt. Ein Besuch von Helmut bei Heinrich Himmler (Viktor Sukhorukow) enfaltet so im raffiniert aus­geleuchteten SS-Quartier mit Hitlerbüste eine morbide Schönheit.

Der Regisseur, der zusammen mit Elena Kiselewa das Drehbuch erarbeitet hat, betrachtet seinen Film als Parabel über menschliche Abgründe. Dieselbe Art der ­Radikalisierung und des Hasses wie in der Nazizeit werde heute wieder deutlich spürbar: »Sie bedroht die Sicherheit und das Leben unzähliger Menschen in aller Welt.«

Kontschalowskis großartiges Ensemble beglaubigt, wie die Verhältnisse aus anständigen Familienmenschen wie Jules oder sensiblen Ästheten wie Helmut perfekt ­funktionierende Mordgehilfen machen. Nicht zuletzt deshalb liegt Schwermut über diesem Film. Julia Vysotskaya folgt als ­Olga einzig ihrem Überlebensinstinkt. Ob sie sich einst in Italien einen russischen Prinzen angelte, mit Jules um ihr Leben verhandelt oder im KZ den Tod auf Distanz hält – stets spielt diese Frau mit höchstem Einsatz auf Sieg. Olga bringt Licht ins Dunkel des Films, der mit einer hoffnungsvollen Einstellung endet.

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