Kritik zu Der geheimnisvolle Blick des Flamingos
In einem chilenischen Dorf geht angeblich eine Seuche um, die durch die Blicke von homosexuellen Männern und trans Frauen übertragen wird. Als eine trans Frau ermordet wird, sucht ihre Ziehtochter den Täter, um sich zu rächen
Als die elfjährige Lidia (Tamara Cortés) mit einer Schürfwunde nach Hause kommt, reicht es Flamingo (Matías Catalán). Die trans Frau, die das Mädchen wie ihre eigene Tochter aufzieht, ahnt, dass die vorlauten Jungs aus dem Dorf ihr wehgetan haben, und trommelt die Bewohner*innen ihrer queeren Gemeinschaft zusammen. Ein buntes, fröhlich lärmendes Trüppchen macht sich auf den Weg zum Badetümpel, wo sie auf die Jugendlichen treffen. Es kommt zum Gerangel, einen kriegen sie zu fassen. Flamingo zieht dessen Gesicht ganz nah an ihres und zwingt ihn, ihr in die Augen zu schauen. »Seuche«, zischt sie verächtlich, dann lassen sie den Halbstarken laufen. Flamingo und ihre Clique lassen sich nichts gefallen, auch wenn sie hier die Außenseiter sind an diesem abgelegenen Bergarbeiterort in der nordchilenischen Atacama-Wüste, der Anfang der 1980er wie aus der Zeit gefallen scheint. Hier leben sie in einer Holzhütte mit Bar und einer kleinen Bühne für Travestieshows. Im Dorf kursiert das Gerücht einer tödlichen Krankheit, die Männer trifft, die sich lieben. Und die sich auch durch einen Blick der trans Frauen übertragen soll. Das glaubt auch Yovani, mit dem Flamingo ein Verhältnis hatte, und vermutet, dass er sich durch sie angesteckt hat. Als sie Flamingo wenig später tot und mit ausgestochenen Augen finden, beschließt Lidia, der Wahrheit auf die Spur zu kommen und den Tod ihrer Ziehmutter zu rächen, mit Hilfe des gleichaltrigen Julio (Vicente Caballero).
Das Gespenst von Aids schwebt im Langfilmdebüt »Der geheimnisvolle Blick des Flamingos« als Mythos über den Figuren, ohne je beim Namen genannt zu werden. Der 30-jährige Regisseur Diego Céspedes übersetzt das historische Trauma in ein queeres Märchen zwischen Coming-of-Age, Western-Mythos und Sozialdrama. Die Wahlfamilie um Flamingo und Mama Boa (Paula Dinamarca) steht dabei im Kontrast zur machistischen Dorfgemeinschaft. Erzählt wird die Geschichte aus Lidias kindlicher Perspektive, die das Geschehen mit Faszination und Schrecken beobachtet und dem Film so eine poetische Freiheit verleiht.
Bildgestalter Angello Faccini komponiert die Wüstenlandschaft in erdig-staubigen Brauntönen, das 4:3-Format engt die Figuren ein, wie gefangen in den Verhältnissen. Tatsächlich trägt die Kamera den Film stärker als das Drehbuch. Auch Florencia Di Concilios Score, zwischen Melancholie und Pathos, deutet Emotionen an, die das gesprochene Wort selten erreicht. Und zwischen allegorischen Motiven und konkreter Handlung verliert Céspedes gelegentlich den erzählerischen Takt. Einige Sequenzen, besonders im letzten Drittel, wirken überdeutlich symbolisch, als müsse jedes Bild eine Bedeutung tragen. Trotzdem bleibt »Der geheimnisvolle Blick des Flamingos«, der in Cannes mit dem Großen Preis der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet wurde, ein bemerkenswertes Debüt voller Sinnlichkeit, Ambivalenz und Hoffnung. Céspedes erzählt queeres Begehren nicht als Leidensgeschichte, sondern als Form der Imagination und des kämpferischen Mitgefühls.





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