Mit den Wölfen heulen
Auf die Frage, was er an Nicole schätzt, antwortet Charlie auf Anhieb: "She is a good citizen." Da mag ein wenig Sarkasmus im Spiel sein, schließlich befinden sich die Barbers mitten in der Mediation ihres Scheidungsverfahrens. Zivilbürgerliche Tadellosigkeit ist nicht unbedingt die erste Tugend, die einem zum einst geliebten Ehegatten einfällt. Aber als Minimalforderung für ein gedeihliches Miteinander funktioniert das durchaus.
Mithin scheinen die Chancen für einen weiterhin zivilen Umgang nicht schlecht zu stehen. Wer »Marriage Story« von Noah Baumbach gesehen hat weiß jedoch, dass es anders kommt. Der Sorgerechtsstreit wird mit harten Bandagen geführt. Unmöglich, die oscarverdächtige Zimmerschlacht gegen Ende zu vergessen. Überhaupt kenne ich niemanden, den der Film nicht aufgewühlt hat. Ich beispielsweise wurde immer zorniger, als die Scheidungsanwälte das Ruder übernahmen.
Die Gazelle Laura Dern und der Pitbull Ray Liotta kennen vor Gericht wirklich kein Erbarmen, ihnen ist nichts heilig, um ihre Mandanten gegeneinander aufzustacheln. Dabei ist »Marriage Story« eigentlich ein intimer Film; ich glaube, in keinem anderen hat Baumbach so viele Großaufnahmen eingesetzt. Als Erstes habe ich immer das kleine Apartment vor Augen, das Adam Driver in Los Angeles mietet, weil Scarlett Johansson mit ihrem gemeinsamen Kind dorthin gezogen ist. Es wirkt so unpersönlich wie ein Motelzimmer, aber Driver lebt sich dort notdürftig ein. Die Kochzeile, die den Raum trennt, ist ein szenenbildnerischer Glücksgriff, denn sie zwingt die Darsteller oft, miteinander zu sprechen, ohne sich anzuschauen. Ihr letzter privater Streit eskaliert, es gibt kein Halten mehr, sie verfluchen einander, wünschen sich den Tod, bis Driver in seinem hilflosen Zorn mit der Faust auf die Wand einschlägt. Danach sinkt er schluchzend zu Boden, ein Moment der Katharsis, denn sie tröstet ihn.
Dass das Private in die Öffentlichkeit gezerrt wird, gehört zum Grundbestand des Gerichtsfilms. Auf die Zerfleischungsorgie, bei der die Anwälte die Regie führen, war ich nicht gefasst. Dass mit einem Mal die Ereignisse in ihrer Ehe so heftig umgedeutet werden können, dass Wahrheiten umstandslos in ihr Gegenteil verwandelt werden, konnte man 2020 auch als Gleichnis auf die erste Trump-Ägide lesen. In der zweiten, Sie haben es vielleicht in der vergangenen Woche gelesen, gewinnt »Marriage Story« eine neue, unverhoffte Symbolik. Das Landwirtschaftsministerium, bei dem seit Musks Kettensägen-Angriff wahrscheinlich erheblicher Personalmangel herrscht, setzt nun Tonaufnahmen des ikonischen Streits zur Abschreckung von Wölfen. Zumal im Bundesstaat Oregon hat sich die Population in den letzten 30 Jahren offenbar enorm vergrößert. In einem Monat sollen sie elf Kühe gerissen haben, in den drei Monaten der einschüchternden Beschallung waren es gerade einmal zwei. Wölfe müssen nichts von Katharsis verstehen. Prosaischere Naturen wären wohl eher auf die Idee gekommen, eine Attacke aus »The Searchers«, eine Schießerei aus »Death Wish« oder das finale Blutbad in »The Wild Bunch« zur Abschreckung zu nutzen. Aber die Maßnahme zeitigt Wirkung. "Die Wölfe sollten merken", wird ein zufriedener Aufseher der Behörde in Oregon zitiert, "dass Menschen wirklich schlecht sein können." Was mag Baumbach wohl von dieser Zweckentfremdung halten? Allem Anschein hat er sich noch nicht dazu geäußert.
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