Interview mit Michael Kinzer über die DFF-Ausstellung »Entfesselte Bilder«

Es ist kompliziert...
Ausstellungsansicht (Foto: Uwe Dettmar). © DFF

Ausstellungsansicht (Foto: Uwe Dettmar). © DFF

Marcus Stiglegger: Das Thema ist »Entfesselte Bilder«, und was in der Ausstellung an Szenen aus der Filmgeschichte geboten wird, sind Momente, bei denen der Film auf ganz besondere Weise bei sich ist als Medium. Nun gibt es sehr unterschiedliche Varianten, wie dieser filmische Blick entfesselt werden kann.

Michael Kinzer: Das Hauptthema sind ja eigentlich Plansequenzen gewesen, also lange ungeschnittene Aufnahmen, die per definitionem nicht unbedingt Kamerabewegungen enthalten müssen – aber das war der Bereich, der mich am meisten interessiert hat. Meine Idee war, diese beeindruckenden Choreographien in den Ausstellungsraum zu übertragen. Und da das ein sehr spezifisches Thema ist und viele spezifische filmsprachliche Begriffe umfasst, die das allgemeine Publikum nicht unbedingt erreichen, habe ich das Ganze erweitert und bin auf die Mobilität der Kamera in einem etwas größeren Kontext eingegangen. Welche wichtigen Meilensteine gab es, um die Kamera beweglicher zu machen und komplexere Plansequenzen erschaffen zu können? Daher kam letzten Endes der Titel. Für mich ist die Entfesselung der Kamera in den 1920er Jahren durch Kameramänner wie Karl Freund oder Jules Krüger in Frankreich eingeführt worden. Diese Bewegungsexperimente sind sozusagen die Grundlage, auf der immer komplexere Bewegungssequenzen möglich sind. Die waren damals natürlich noch sehr, sehr kurz, aber es war plötzlich eine ganz starke Mobilität in den Filmbildern. Weiter gefasst als Plansequenz.

Weil das ein sehr spezifischer Begriff ist, den man erst mal definieren muss.

Ich habe viele Texte gelesen, die Plansequenzen als komplexe Bewegungschoreographien in ungeschnittenen Einstellungen definieren. Aber letzten Endes, wenn man zurückgeht zu André Bazin, sind es auch die statischen Bilder, die mit Tiefenschärfe zum Beispiel arbeiten. Also nicht unbedingt immer eine entfesselte Kamera.

Absolut. Die Dauer, das Geschehen in der Zeit. Es gibt ja eine filmhistorische Dimension in dieser Ausstellung. Vielleicht können Sie ganz kurz sagen: Wie sind Sie mit Filmgeschichte und dieser Vielschichtigkeit von Filmgeschichte auch national gesehen umgegangen?

Da spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Es gibt einzelne Sequenzen, die immer wieder genannt werden und als he­rausragende Beispiele bekannt sind. Das sind die Anker gewesen, an denen ich mich entlanggehangelt habe. Natürlich will man ein möglichst großes Spektrum zeigen. Aber oft geht das auch gar nicht so, wie man sich das eigentlich wünscht.

Wir hatten bereits André Bazin erwähnt; der ist natürlich als ein französischer Filmtheoretiker sehr wichtig, wenn man sich mit dem Thema Plansequenz beschäftigt. Können Sie ganz kurz sagen, wie die Position von Bazin zur langen Einstellung, in diesem Fall zur Plansequenz, im Speziellen ist?

Der Begriff Plansequenz geht ja zurück auf die französische Bezeichnung: »plan« heißt in dem Fall eben einfach Einstellung oder Aufnahme. Also das Stück zwischen zwei Schnitten. Die Plansequenz ist im Grunde die Einstellungssequenz. Das heißt, wir haben eine Handlungseinheit, die ohne Schnitte präsentiert wird. Die Kamera muss sich nicht bewegen, kann sich aber bewegen und hat darin eine größere Nähe zu unserer wirklichen Wahrnehmung. Wenn wir etwas in der Realität anschauen, gibt es auch keine Schnitte, es gibt keine vorgefertigte Präsentation. Bei der Montage zeigen uns der Regisseur oder die Regisseurin, was sie uns zeigen wollen, und wir können nicht auswählen. Wenn das Bild dagegen lange dasteht, kann unser Blick wandern. In diesem Bild kann man sich Einzelelemente auswählen, das entspricht mehr der Wahrnehmung. Gleichzeitig wird die Raum-Zeit-Kontinuität bewahrt.

Es gibt auch Kritik an dieser Position. Die Repräsentation vorfilmischer Realität durch filmische Mittel wird durchaus so betrachtet, dass etwa das Aufnehmen und die Positionierung der Kamera bereits eine starke Abweichung von unserer alltäglichen Wahrnehmung sind. In der Studie »Die lange Einstellung« von Christian Kaiser findet sich die nachdrückliche These, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen der langen Einstellung und mystischen Erfahrungen, die in manchen Filmen auftreten. Das gilt natürlich nur für bestimmte Filme und Filmemacher, zum Beispiel Andrei Tarkowskij, Theo Angelopoulos und Béla Tarr oder auch Gaspar Noé bei »Enter the Void«.

Ich habe das Buch auch gelesen, aber das sind eben gerade solche Einstellungen, in denen die Dynamik der Kamera reduziert ist, die sehr statisch sein können oder sich nur minimal bewegen. Dadurch entsteht dieser transzendentale Blick: wenn wir auf dieses lange gleiche Bild schauen. Und das ist eine ganz andere Ästhetik der Plansequenz. Christian Kaiser spricht vom Slow Cinema oder dem Contemplative Cinema, das wir sehr stark im internationalen Arthouse-Kino finden. Und es gibt so ein paar Grenzgänger wie die, die Sie genannt haben, Béla Tarr und Angelopoulos, wo es durchaus auch sehr toll anzusehende Choreographien der Kamera gibt. Das sind die, die ich in der Ausstellung ein Stück weit berücksichtigt habe.

Ich bin auch kein absoluter Verfechter dieser Bazin'schen Theorie des Realismus in der Plansequenz, weil das natürlich alles exakt vorgefertigt ist, da kann unser Blick eigentlich gar nichts wirklich auswählen. Da entsteht eine gewisse Künstlichkeit, die von diesem Realitätsanspruch komplett abweicht.

Da fällt mir eine Sequenz ein, die man nicht hoch genug schätzen kann: die Beerdigungssequenz aus »Soy Cuba« von Michail Kalatosow [YouTube]. Das ist eher ein selten gesehener Film, der von Martin Scorsese wiederentdeckt wurde, ein Film, der nicht nur mit Filmmaterial, Schwarz-Weiß-Material und Infrarotelementen so ganz anders umgeht, sondern der auch Kamerabewegungen revolutioniert hat. Und da sind wir bei diesem technischen Aspekt . . .

Zweifellos spielt das eine wichtige Rolle, aber in der Ausstellung selbst wollte ich die Technik nicht zu stark ins Zentrum stellen. Für mich war der ästhetische Wirkungsfaktor das Entscheidende.

Inzwischen kann man kaum noch unterscheiden, was technisch beim Dreh umgesetzt oder digital errechnet wurde.

Wenn man sich einen Film wie »Gravity« anschaut von Alfonso Cuarón – in den meisten Sequenzen sind nur die Gesichter, die wir sehen, real. Alles andere ist am Computer erstellt worden. Man hat heutzutage eine quasi hundertprozentige digitale Manipulationsmöglichkeit. Und man kann auch nicht mehr erkennen: Ist es jetzt wirklich in einer Einstellung gedreht oder wurden da verschiedene Segmente so zusammengesetzt, dass wir es nicht sehen können?

Genau, die digital kaschierten Nahtstellen. Das ist etwas, was man in »Cocktail für eine Leiche« von Hitchcock noch deutlich sieht. Gibt es denn eine Plansequenz mit entfesselter Kamera, die Sie für besonders wichtig halten?

»Soy Cuba« von Kalatosow ist wirklich eindrucksvoll. Martin Scorsese hatte ja gesagt, wir können gar nicht abschätzen, wie es gewesen wäre, wenn der Film damals Erfolg gehabt hätte und nicht sofort wieder verschwunden wäre, weil sowohl die sowjetischen als auch die kubanischen Autoritäten nichts davon hielten, wie er vielleicht die Filmsprache verändert und beeinflusst hätte. Hier fragt man sich oft, wie das technisch umgesetzt wurde Anfang der 1960er Jahre, wenn die Kamera in 15 Meter Höhe über die Straße schwebt. Manches bleibt ein Mysterium, manches verheimlichen die Filmschaffenden wie Zauberer, die ihre Tricks nicht preisgeben. Oft sind es auch die Filme aus der eigenen Jugend, die einen Eindruck hinterlassen haben: Brian de Palmas Filme haben eindrucksvolle Plansequenzen, aber auch »Boogie Nights« und »Magnolia« von P. T. Anderson.

Podcast zur Ausstellung »Entfesselte Bilder«

Die aktuelle Sonderausstellung des DFF mit dem Titel »Entfesselte Bilder« (2. April 2025 bis 1. Februar 2026) ist angelegt als ein Labyrinth aus Projektionen und Monitoren, auf denen Kamerakunststücke aus mehr als 100 Jahren Filmgeschichte gezeigt werden. Eine verschachtelte Architektur aus bewegten Bildern, die den Film als einzigartige Kunstform präsentiert.

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