Berlinale Dokumentarfilm: Zornig bis zärtlich

»Architecton« (2024). © Neue Visionen Filmverleih

»Architecton« (2024). © Neue Visionen Filmverleih

Harte Themen prägten die Dokumentarfilme quer durch die Sektionen der Berlinale. Eine Bestandsaufnahme zwischen privaten und politischen  Traumata, Kriegen und postkolonialistischer Aufarbeitung

Zum zweiten Mal hintereinander hat mit Dahomey ein Dokumentarfilm den Wettbewerb der Berlinale gewonnen. Die Arbeit der franko-senegalesischen Regisseurin Mati Diop begleitet die Restitution von 26 Königsstatuen, die 1892 von französischen Kolonialisten aus dem damaligen Königreich »Dahomey« nach Paris verschleppt wurden. Die mythische Grabesstimme einer der Figuren kommentiert das Geschehen poetisch überhöht. Daneben setzt Diop eine öffentliche Debatte um das Thema unter Student*innen in Benin. Dahomey, der sich in der Sprache Fon zur Selbstvergewisserung vor allem an ein Publikum in Benin selbst richtet, war neben Victor Kossakovskys (in gewohnter Überwältigungsmanier realisiertem) »Architecton« einer von zwei Dokumentarfilmen im Wettbewerb und zeigt, wie essayistische Montage komplexe historische Sachverhalte differenziert präsentieren kann. Die tansanisch-deutsche Koproduktion »Das leere Grab« (Regie: Cece Mlay, Agnes Lisa Wegner, Berlinale Special) verknüpft gelungen die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte in Berlin mit dem Ringen tansanischer Familien um die Heimkehr einst geraubter und nun in deutschen Museumsdepots lagernder Schädel ihrer gewaltsam getöteten Ahnen. Erinnerung und Trauma prägen auch »Une famille« von Christine Angot (Encounters), die den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch den Vater nach einigen literarischen Arbeiten jetzt auch in einem Film verarbeitet. Dabei spiegelt sich nachvollziehbarer Zorn in streitbaren Übergriffigkeiten auf eine Protagonistin, die für den Film geradezu gewaltsam vor die Kamera gezerrt wird. »Da sollten sie nicht filmen«, sagt auch eine Passantin in »Direct Action« von Guillaume Cailleau und Ben Russell (Encounters-Preis für den Besten Film) über Aktivist*innen, die durch eine Flughafenplanung gefährdetes Land im Nordwesten Frankreich besetzten. Es geht um Kämpfe mit der Polizei. Auch dies ein Film über Zorn und kollektive Bemühungen zur Utopie: Cinema Direct, mit Beharrlichkeit über ein Jahr gedreht.

Einen starken Beitrag zur aktuellen Situation der Frauen im Iran und zur Bedeutung des Archivs hat Farahnaz Sharifi geliefert. Ihr Film sollte von ihrer mit Leidenschaft betriebenen Sammlung von Home Movies aus vorrevolutionären Zeiten handeln. Doch dann gehen die Bilder verloren und die Filmemacherin kann von einem Stipendium in Deutschland nicht in den Iran zurück. »My Stolen Planet« nimmt diese Zwangslage als Material für ein starkes persönlich-politisches Resümee. Und die Ukraine? Da war Abel Ferraras emphatisches »Turn in the Wound« mit Direct-Cinema-Begegnungen im Kriegsgebiet und Patti Smith. Oksana Karpovych stellt in »Intercepted« (Forum) eindringlichen Tableaus von vom Krieg verwüsteten Orten mitgeschnittene Telefongespräche russischer Soldaten gegenüber, deren Schilderungen oft die Grenzen des Erträglichen überschreiten. 
Im Forum sind fast 60 Prozent der Filme non-fiktional. Dabei fällt die erfreuliche Vielfalt von formalen Ansätzen jenseits des Kanon auf: die kollektive Begleitung der Kämpfe im redaktionellen Verfahren um eine neue Verfassung in Chile in Oasis (Regie: Tamara Uribe, Felipe Morgado). Der ganz auf Tech-­Minimalismus getrimmte Video-Briefwechsel zwischen Berlin, Wien und Isfahan in »Was hast du gestern geträumt, Parajanov?« von Faraz Fesharaki. Oder Katharina Pethkes autofamiliäres Filmessay über drei Generationen von Filmemacherinnen zwischen Mutterschaft und künstlerischer Produktivität (Reproduktion). Wie ein Spiegel dazu der Film, für dessen internationale Premiere die georgische Regie-Legende Lana Gogoberidze mit über neunzig Jahren nach Berlin gereist war: »Mother and Daughter, or the Night is Never Complete« ist das Porträt von und eine ergreifende Hommage an die Filmpionierin Nutsa Gogoberidze, die 1934 erste Regisseurin eines Films in Georgien wurde und Lanas Mutter war.

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