Nachruf: Bertrand Tavernier

25.4.1941 – 25.3.2021
»Ein Sonntag auf dem Lande« (1984). © Concorde Filmverleih

»Ein Sonntag auf dem Lande« (1984). © Concorde Filmverleih

Schaulust ohne Grenzen

Seine Filme schienen wie die Jahreszeiten aufeinanderzufolgen. Auf den ersten Blick wirkten sie gegensätzlich und gingen doch auseinander hervor. Das war von Anfang an so. Sein Langfilmdebüt »Der Uhrmacher von St. Paul« von 1974 war die Adaption eines Krimis von Georges Simenon, dessen Handlung er von den USA in seine Geburtsstadt Lyon verlegte; sein zweiter Film »Wenn das Fest beginnt« setzte wenige Tage nach dem Tod von Louis XIV. 1719 ein und zeichnete ein zorniges Bild von der Ausbeutung des Volks durch Adel und Klerus. Bei ihm schloss ein großes Leinwandfresko unmittelbar an ein Kammerspiel an (wenngleich beide gern in Breitwand); zwischendrin drehte dieser große Schauspielerregisseur unablässig Dokumentarfilme. 

Bertrand Tavernier blieb seinen Mitarbeitern treu und wusste, wann es Zeit war, sich neue Komplizen vor und hinter der Kamera zu suchen (auf die alten griff er Jahre später wieder zurück, um sich und ihnen die Frische zu erhalten). Mit jedem Film wollte er das Register wechseln, um konsequent seine thematischen Obsessionen zu verfolgen: die Verantwortung des Einzelnen, Zivilcourage, Gemeinschaftssinn – und immer wieder der Konflikt zwischen den Generationen und gesellschaftlichen Sphären. Eine dick aufgetragene, unverwechselbare Handschrift sollten seine Filme nicht verraten, und taten es doch unweigerlich mit ihrer agil ausgreifenden Kamera, den lyrischen Montagen und dem Geschick, die Figuren tief in ihrer Epoche und Umgebung zu verwurzeln. 

Er reklamierte für sich, Filme in der dritten Person Einzahl zu drehen. Auch damit setzte er sich von dem autobiografischen Erzählimpuls der Nouvelle Vague ab. Gleichwohl floss seine Lebensgeschichte in die Filme ein. Der alternde Maler, der in »Ein Sonntag auf dem Lande« seinen Jugendträumen nicht gerecht wird, hatte viel mit seinem eigenen Vater gemeinsam, dem Publizisten René Tavernier; im Verhältnis zwischen dem jungen Jazzfan François Cluzet und dem exilierten Musiker Dexter Gordon in »Um Mitternacht« spiegelten sich Erfahrungen, die er als Presseagent von John Ford sammelte; insgeheim fungierte Philippe Noiret in neun Filmen als ein Alter Ego; schließlich zog sich die Liebe zum Kino als autobiografisches Moment durch sein Werk. Tavernier hatte Ende der 1950er als Kritiker angefangen, gehörte dabei aber nie einer der verfeindeten Gruppen an, schrieb sowohl für die »Cahiers du cinéma« wie für die Konkurrenz »Positif«. Besonders faszinierten ihn Filmemacher, die Mut zur Abweichung bewiesen, zum Durchbrechen der Konventionen. Er war maßgeblich an der Wiederentdeckung von Michael Powell, Julien Duvivier und Mikio Naruse beteiligt. Seine Neugier schweifte, der Kanon der Filmgeschichte war für ihn nie abgeschlossen; bis zuletzt hob er deren ungekannten Schätze. Als Presseagent setzte er in den 1960ern sein Mandat leidenschaftlicher Fürsprache fort. Sein Wechsel zur Regie war durchaus eine logische Konsequenz dieses Engagements. So rehabilitierte er beispielsweise Drehbuchautoren, die der Schwarzen Liste oder den »Cahiers« zum Opfer gefallen waren. 

Als Filmemacher wollte er seiner Schaulust keine Grenzen setzen. Er versuchte sich in beinahe allen Genres, drehte Historien- (»Die Passion der Béatrice«) und Science-Fiction-Filme (»Death Watch – Der gekaufte Tod«), einfühlsam wütende Gesellschaftsstudien (»Es beginnt heute«) und Melodramen (»Holy Lola«). Das war stets auch eine Wette mit der Unvereinbarkeit der erzählerischen Elemente, ein Ausscheren aus den Gereimtheiten der Genres. Tavernier gelangen Kriegs- (»Das Leben und nichts anderes«) und Polizeifilme (»Auf offener Strasse«), in denen kein einziger Schuss fiel, er verwandelte einen hart gesottenen Krimi von Jim Thompson in eine antikolonialistische Farce (»Der Saustall«). Sein letzter Spielfilm »Quai d'Orsay« war die Adaption eines Comics. Diese atemraubende Breite erzählerischer Interessen übertrug er in einen Stil unbedingter Dringlichkeit: Gleichviel, in welcher Epoche seine Filme spielten, stets geschahen die Dinge genau jetzt. Sie entstanden aus Respekt und Empörung. Er hatte sich einen Sinn für das Heroische bewahrt. In mehr als drei Dutzend Spiel- und Dokumentarfilmen fand er es im Alltag wieder. Der letzte Film, den er seiner Krebserkrankung abtrotzte, war seine monumentale »Reise durch das französische Kino«. Es ist ein triftiges Vermächtnis, das voller unverhoffter Entdeckungen steckt, historische Lücken schließt und die Vergessenen und Verfemten in ihr Recht setzt. 

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